Die Schattenflotte
etwa zwanzig Metern in einer Mauernische. Sören blickte an der Fassade des Gebäudes empor. Das Haus hatte vier Etagen und wirkte genau wie die Budenreihe unbewohnt. Einige Fensterscheiben waren eingeschlagen und die meisten mit Brettern vernagelt. Auffällig war, dass das Haus zur Hofseite im Erdgeschoss keine Fenster hatte. So, als wenn es dort ehemals einen Anbau gegeben hatte, der inzwischen abgetragen worden war.
«Zeig mir genau die Stelle, wo ihr euch mit Simon Levi geschlagen habt und wo er zu Boden gegangen ist.»
Schmidlein machte einen Schritt zur Seite. «Das war hier.»
Sören ging auf die Stelle zu, hockte sich auf den Boden und drehte sich langsam in alle Richtungen um. Die Budenreihe und der Durchgang zur Schmuckstraße waren von hier aus nicht zu sehen. Auch das Werkstattgebäude im Hof lag außerhalb seines Blickwinkels. Blieben allein der Torbogen zur Thalstraße sowie die hofseitigen Fenster der mittleren zwei Geschosse des Hauses an der Schmuckstraße. Von wo aus konnte Waldemar Otte das Geschehen beobachtet haben? Und wohin waren Levi und die Frau verschwunden? Sören erhob sich und ging zum gegenüberliegenden Haus. Eine kleine Katze lugte aus dem Berg voller Unrat hervor, der an der Mauer aufgestapeltlag. Nach einem Moment des Zögerns kam sie hervor und streifte mit krummem Buckel und aufrecht in die Höhe gestelltem Schwanz zutraulich an Sörens Beinen entlang. Dann stolzierte sie in Richtung Willi Schmidlein und rieb sich auch an dessen Hose. Sören winkte ihn zu sich heran. «Pack mal mit an.»
Er selbst zerrte einige Bretter und eine durchweichte Matratze vom Stapel. Nachdem sie eine breite Holzplatte beiseitegezogen hatten, konnte man Treppenstufen erkennen. «Lag der Krempel in der Silvesternacht schon hier herum?», fragte Sören und arbeitete sich weiter vor, bis tatsächlich eine Tür zum Vorschein kam.
«Keine Ahnung.» Schmidlein zuckte die Schultern.
Sören rüttelte an der Tür. «Abgeschlossen. Als ich dich das erste Mal nach den Geschehnissen fragte, erwähntest du das Schlagen einer Tür. Das ist die einzige Tür, die in Frage kommt. Die Bruchbude auf der anderen Seite kannst du vergessen.» Sören machte ein nachdenkliches Gesicht. «Und irgendjemand hat das Gerümpel hier deponiert, damit man die Tür nicht sieht.» Er inspizierte das Schloss und zog schließlich einen Zahnstocher aus der Brusttasche seiner Weste. «Von innen verriegelt», erklärte er ärgerlich, nachdem er den Zahnstocher durch den Türspalt gezogen hatte. «Also versuchen wir’s von der anderen Seite.»
Im Tordurchgang zur Schmuckstraße stank es erbärmlich nach Hundepisse. Ganz allgemein machte die Gegend hier keinen besonders beschaulichen Eindruck, was vor allem an den verfallenen Häusern lag. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schmuckstraße standen ebenfalls zwei ruinenhafte Budenreihen. Eins der beiden Häuser wirkte, als wäre es in der Mitte durchgebrochen. Bei genauerer Betrachtung konnte man erkennen, dasssich der Erdboden an besagter Stelle abgesenkt hatte. Der Firstbalken des Satteldaches war gebrochen, und es sah aus, als wäre die eine Hälfte des Hauses zur Seite gekippt. Dieser Zustand schien schon länger zu bestehen, denn über und durch das Dach krochen bereits mehrere Efeuranken. Was hatten Otte wie auch Simon Levi bloß in dieser Gegend zu suchen gehabt?
Von der Straße aus blickte Sören auf die Fassade der katholischen St.-Josephs-Kirche an der Westseite der Großen Freiheit, auf welche die Schmuckstraße mündete. Ganz im Gegensatz zum Rest der Gegend bot sie einen malerischen, fast unwirklichen Anblick. Der Schein der untergehenden Sonne brach sich im Kreuz der Kirche und schien der geschwungenen Fassade strahlende Flügel verleihen zu wollen. Für einen Augenblick verharrte Sören und betrachtete das Schauspiel, dann ging sein Blick zurück auf den Straßenzug. Sie befanden sich direkt an der Grenze zu Altona. Unweit vor ihnen kreuzte der alte Grenzgang die Schmuckstraße, ein schmaler Pfad, der an einigen Stellen mit hölzernen Palisaden versehen war. Bevor der Straßenzug angelegt worden war, hatte es nur fünf Übergänge gegeben, durch die man von St. Pauli ins benachbarte Altona gelangen konnte. Neben dem Nobistor an der Reeperbahn die hafennahen Posten am Pinnastor, am Schlachterbudentor und am Trommeltor sowie an dem weiter nördlich gelegenen Hummeltor. Der Grenzweg war ein Relikt aus alten Zeiten. Patrouilliert wurde hier so gut wie nicht mehr, denn
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