Die Schattenflotte
der Wege. Kaum jemand beachtete ihn. Schon nach wenigen Minuten begann Sören zu frösteln. Es war weniger die Temperatur als vielmehr der feuchtkalteWind, der durch die Kleider kroch. Niemand nahm Notiz davon, als er sich plötzlich erhob und nach wenigen Metern abrupt in die entgegengesetzte Richtung wechselte. Vielleicht beobachtete man ihn auch aus größerer Entfernung.
Während er sich dem Millerntor näherte, kreisten seine Gedanken erneut um die Themen des gestrigen Abends, den Flottenverein und die Rüstungspolitik des Reichs. Wie schon häufig waren Martins und seine Meinung zu den gegenwärtigen politischen Geschehnissen alles andere als übereinstimmend gewesen, was wie immer auch daran lag, dass Martins analytischer Sachverstand und sein eigener emotionaler und beruflicher Horizont von gegensätzlicher Natur waren. Seine eigenen Ansichten waren geprägt durch die alltägliche Not der Menschen, mit denen er als Anwalt praktisch täglich konfrontiert war. Dazu kam, dass er zu fast allen Themen durch Tilda stets auch parteipolitische und gewerkschaftliche Aspekte erfuhr. Für Martin waren diese alltäglichen Dinge graue Theorie, die er nur im Vorbeigehen streifte oder vom Hörensagen kannte. Dennoch war die Information darüber für Martins analytisches Denken unverzichtbar, denn auch wenn er aus einer sicheren, weil sorglosen Distanz versuchte, komplexe Zusammenhänge zu durchschauen, so war er beileibe kein Schöngeist. Sicher, sein Leben war geprägt von Abwägung und Diplomatie, aber bevor er urteilte, wollte er alle Details zur Sache kennen, und riskierte dabei stets auch einen Blick über die Schulter Andersdenkender. Dafür war Sören ihm stets eine erste Adresse gewesen.
Einig waren sie sich über die annähernd perfekte Agitation von Tirpitz und seinem Reichsmarineamt, wenn es darum ging, Massen zu mobilisieren und für die Sache zu gewinnen. Das Nachrichtenbureau und der Flottenvereinarbeiteten dazu Hand in Hand, und Sören musste sich eingestehen, dass er sich gedanklich auch schon mehrmals hatte verführen lassen. Wahrscheinlich, weil Tirpitz’ Argumente für eine starke und schlagkräftige Flotte nicht so weit hergeholt waren, wollte er England wirklich ein Gleichgewicht gegenüberstellen. Was sich der Inselstaat in den letzten Jahren an Provokationen geleistet hatte, rief förmlich nach einer Schutzflotte, die den Demütigungen in den überseeischen Kolonien ein Ende setzte. Waren es doch immer Konfliktherde, die auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhten. Etwa wenn Handelsschiffe deutscher Reedereien durch britische Kreuzer aufgebracht und mit fragwürdigen und scheinheiligen Gründen an die Kette gelegt wurden, bis Ladung und Waren verdorben waren. Solche Provokationen waren den Zeitungsberichten nach fast an der Tagesordnung und schürten natürlich das Verlangen nach einer militärischen Präsenz vor Ort, nach einer Flotte. Gleichzeitig geriet das allgemeine Bild Englands in Schieflage. Das lag vor allem an dem Burenkrieg, den man in Afrika führte. Auch hier standen wirtschaftliche Aspekte und Handelsinteressen im Vordergrund. Zwar hielt sich das Reich in diplomatisch geschickter Neutralität, aber den Engländern konnte nicht entgangen sein, dass sich die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung mehr mit den Buren als mit den Interessen der britischen Krone identifizierte. Die wiederkehrenden Berichte über die Konzentrationslager, welche die Engländer in Südafrika eingerichtet hatten und in denen angeblich menschenunwürdige Bedingungen herrschten, heizten die antienglische Stimmung im Reich zusätzlich auf. War es da ein Wunder, dass die Massen von Tirpitz’ Ideen begeistert waren?
Ein zusätzlicher Aspekt waren die Chancen, die sichdurch die enorme Flottenrüstung plötzlich für eine breite Bevölkerungsschicht auftaten. Die riesigen Schiffe mussten ja nicht nur gebaut und gewartet, sondern auch mit einer Besatzung ausgestattet werden. Ganz im Gegensatz zum Heer, das vorwiegend aus vielen einfachen Infanteristen bestand, benötigte man auf den Schiffen eine ausgebildete Mannschaft mit sehr speziellen Fähigkeiten. Vor allem die Offizierslaufbahn, die im Heer traditionell dem Adel vorbehalten war, wurde nun als bürgerliche Aufstiegschance gesehen. Was dem Reich und den Kaufleuten der Platz an der Sonne war, das war dem Volk der Platz in der Marine.
Ja, es war raffiniert eingefädelt worden. Wie eine Maschine, die man nicht mehr anhalten konnte. Denn die Begeisterung machte auch
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