Die Schattenfrau
Zwei waren ihren eigenen Telefonaten unmittelbar vorausgegangen und von denselben Telefonzellen ausgegangen. Jemand war an Ort und Stelle gewesen und hatte anscheinend darauf gewartet, angerufen zu werden. Warum? rätselte Winter.
Das dritte Gespräch kam von einer Nummer, die zu einem Teilnehmer in einer Wohnung in Majorna zurückverfolgt wurde. Jemand hatte am 16. August nachmittags um halb fünf von dort bei Helene angerufen. Das Gespräch hatte nur eine Minute gedauert. Angerufen hatte eine Frau, die Maj Svedberg hieß und die sich erst überhaupt nicht mehr an das Telefonat erinnern konnte. Am 16. August? War sie da überhaupt in der Stadt gewesen? Konnte es gewesen sein, als sie sich verwählt hatte? Ein Kind hatte sich gemeldet und dann eine Frau, aber es war die falsche Nummer gewesen. Wen hatte sie anrufen wollen? Eigentlich den Zahnarzt. Sie gab ihnen die Nummer - und sie unterschied sich nur in einer Ziffer von Helenes.
»Überprüft sie trotzdem«, hatte Winter zu Möllerström gesagt.
Der Stapel mit Jennies Zeichnungen war dünner geworden, und Winter nahm sich nun den Rest vor. Er konnte sehen, dass einige später entstanden sein mussten. Fortschritte waren erkennbar, aber er war nicht sicher, ob es am Alter lag. Vielleicht war das Mädchen manchmal müde gewesen oder unkonzentriert.
Einige Motive wiederholten sich: Schiffe und Autos, Gesichter in einem Fenster. Ein Wald oder nur einige Bäume. Es war nicht leicht, da einen Unterschied zu erkennen. Ein Weg, der braun, manchmal schwarz war. Sonne und Regen, fast immer Sonne und Regen gleichzeitig. Immer Landschaften. Winter hatte noch keine Zeichnung von einem Innenraum gesehen.
Er hielt eine Zeichnung vor sich hoch. Sie stellte ein Haus mit einem spitzen Dach und einer dänischen Flagge dar.
Die dänische Flagge machte Winter nachdenklich. Weißes Kreuz auf rotem Grund. Das Haus stand auf einer Wiese, die durch einige grüne Striche angedeutet war. Das Haus hatte Wände, die weiß waren wie das Papier.
Während der folgenden halben Stunde arbeitete er sich durch den Rest des Stapels und fand eine weitere Zeichnung mit der dänischen Flagge.
Er hatte zwei Zeichnungen mit der dänischen Flagge und über zwanzig, auf denen ein Schiff dargestellt war.
Dazu drei Zeichnungen von einem Auto, gesteuert von einem Mann mit einem schwarzen Ziegenbart.
Winter legte die beiden Bilder mit der dänischen Flagge nebeneinander auf den Tisch, verglich sie miteinander. Er suchte nach der Signatur »jeni« und erstarrte: Die linke Zeichnung auf dem Tisch war mit »helene« signiert. Er suchte nach einer Unterschrift auf der andern. Sie fand sich unten rechts: »helene«. Winter schluckte und nahm sich noch einmal den Stapel vor. Eine der Zeichnungen mit dem Mann im Auto war auch mit »helene« signiert. Man konnte sie nicht von den zwei übrigen unterscheiden. Fünf der Bilder, die Schiffe darstellten, waren mit »helene« signiert - im gleichen kindlichen Stil wie sonst die Schrift »jeni«. Die Motive waren die gleichen, die Ausführung schien identisch.
Das hier ist mit das Unheimlichste, das ich je erlebt habe, dachte Winter.
Er stand auf und reckte sich. Er spürte die Steifheit im Körper, weil er so lange vornübergebeugt dagesessen hatte, ohne auch nur einen Gedanken an eine ergonomischere Haltung zu verschwenden. Die Muskeln an den Schultern waren völlig verkrampft. Regen prasselte ans Fenster. Er hörte das Dröhnen eines Motorrads und den Schrei einer Möwe.
Ihm dämmerte, das da noch etwas war, das er gesehen hatte, als er die Bilder in der letzten Stunde durchgesehen hatte... Etwas, das mehrmals aufgetaucht war... Etwas, das er wahrgenommen hatte, ohne es wirklich zu registrieren.
Er trat an den Tisch mit den sortierten Bilderstapeln zurück. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben... Da, es war der Weg, der geradewegs vom unteren zum oberen Rand des Papiers führte. Es konnte ein Weg sein, da er sich leicht um einige Bäume krümmte und bei einem Haus endete, das Tür und Fenster hatte, dem aber das Dach fehlte.
Er suchte weiter unter den Bogen, die sich in seinen Händen steif anfühlten. Da. Der Weg, der sich quer über das Papier zog. Das Haus ohne Dach, ein Fenster links von der Tür. Und da, rechts vom Haus: ein Rechteck, hochkant, mit einem Kreuz obendrauf, dessen Striche diagonal verliefen. Doppelt gekreuzt.
Winter verglich das Gesehene mit der ersten Zeichnung. Der gleiche kleine, kaum sichtbare Kasten in einem toten Winkel, dazu
Weitere Kostenlose Bücher