Die Schattenfrau
Wellman vielleicht nach dieser Sache mit anderen Augen betrachten.
Die Ereignisse des vergangenen Monats wurden wieder aufgerollt. Winter konnte seine eigene Ermittlung in den verschiedensten Versionen in der Zeitung beschrieben sehen. Er las alles, warf die Zeitungen dann aber fort. Bülows Artikel war anständig. Er zeigte sich gut informiert, aber das war nicht weiter verwunderlich, da ihm Winter schließlich Auskunft gegeben hatte. Sein Teil der Abmachung.
Winter hatte zugestimmt, am nächsten Vormittag an einer Pressekonferenz teilzunehmen. Am nächsten Tag, nicht früher.
Er saß allein im Zimmer und hatte der Zentrale mitgeteilt, alle Gespräche zuerst zu Ringmar und dann zu Möllerström durchzustellen. Beide waren an ihrem Platz, beinahe in Hörweite. Winter schloss die Augen und lockerte das Zwerchfell: totototo. Vielleicht reinigte das auch die Gedanken. Er griff wieder zu den Zeichnungen, schloss aber die Augen statt die Bilder anzusehen, kniff die Augen so fest wie möglich zusammen, damit sein Hirn ihm endlich Ruhe gäbe, dass es still und dunkel würde in seinem Kopf.
Sie suchten mit Schleppnetzen den Delsjön ab und gingen noch einmal die Waldgebiete um das Gewässer ab. Sie konnten jetzt deutlicher werden bei ihren Fragen in der Nachbarschaft.
Die Fotos aus Helene Andersens Wohnung waren an die Medien verteilt und auf neuen Plakaten abgedruckt worden. Sie durchforsteten alle Melderegister. Helene Andersen hatte drei Jahre in Norra Biskopsgärden gewohnt und davor in einer Wohnung in Backa. Jennie war im Östra-Krankenhaus geboren. Der Vater war als unbekannt angegeben worden. Helene hatte sich von Anfang an allein um ihr Kind gekümmert.
Sie hatte Kontakt zum Sozialamt gehabt oder eher umgekehrt.
Die Behörde hatte sie kontrolliert und war bei ihr zu Hause gewesen, und man hatte sie anscheinend für fähig gehalten, sich selbst um ihre kleine Tochter zu kümmern. Aber keiner, mit dem Winter sprach, konnte sich näher an etwas erinnern.
Helene hatte keine Arbeit, bekam aber keine Sozialhilfe. Das passte nicht zusammen. Sie hatte nirgendwo Schulden, also bezahlte sie ihre Rechnungen, ohne ein Einkommen zu haben. Das bringt keiner so einfach fertig, dachte Winter und machte die Augen wieder auf. Irgendwoher musste sie Geld bekommen haben. In ihren Steuererklärungen hatte sie ein kleineres Vermögen angegeben, aber sie fanden nichts, weder auf irgendwelchen Konten noch in Bankfächern. Allerdings war diese Untersuchung noch nicht ganz abgeschlossen.
Was er nun wissen wollte, war, wie und wo sie gewohnt hatte, ehe sie nach Hisingen kam, in die Wohnung am Backaplan.
Seine Männer waren bereits einmal dort gewesen und würden nochmals hingehen zu dem jungen Paar, das ausgesehen hatte, als wäre es sozusagen auf frischer Tat ertappt worden.
Er wollte endlich wissen, was Helene wirklich gemacht hatte. Kein Arbeitgeber hatte bislang von sich hören lassen, keine Schule. Und keine Eltern. War sie mit ihrem Kind wirklich völlig allein auf der Welt gewesen? Noch sah es so aus.
Es gab 145 Andersens im Göteborger Telefonbuch, aber bisher hatte sich keiner gemeldet.
Helene hatte ein Telefon gehabt, seit dem 20. August. Und sie hatte irgendwo ein Telefon gekauft, wo, wussten sie noch nicht. Eine fast dreißigjährige Frau, die vielleicht ihr erstes Telefon bekam. Warum erst jetzt? Warum nicht schon früher? Reichte das Geld nicht dafür? Hatte sie es von jemand anders geschenkt bekommen?
Eine Veränderung musste eingetreten sein, die dafür verantwortlich war, dass sie auf einmal ein Telefon brauchte, schloss Winter. Vielleicht musste sie dringend mit jemandem Kontakt aufnehmen. Hatte sie Angst? Hatte sie das Telefon als Schutz gekauft? Hatte sie Bescheid bekommen, dass sie ständig erreichbar sein musste... Rund um die Uhr?
Sieben Tage nach der Anmeldung ihres Telefons war sie gestorben. Sie hatte nur zweimal telefoniert, und beide Gespräche gingen an Telefonzellen. Die eine stand auf dem Vägmästarenplatsen, und dort hatte sie am 14. August um 18.30 Uhr angerufen. Die andere befand sich am Busterminal im Stadtteil Heden, und dorthin hatte sie einen Abend später, am 15. August, telefoniert. Falls sie selbst gewählt hatte. Beide Gespräche waren fast gleich lang: zweieinhalb Minuten. Das ist wenig Zeit, dachte Winter. Er hatte mit Ringmar zweieinhalb Minuten gesprochen und die Zeit gestoppt, und da war nicht viel gesagt worden.
Helene hatte auf ihrem neuen Telefon auch drei Gespräche bekommen.
Weitere Kostenlose Bücher