Die Schattenfrau
getrunken, mehr nicht. Angela hatte weitergeschlafen, als Winter das Laken über ihren Körper gebreitet hatte, der ungeschützt im Licht des frühen Morgens dagelegen hatte.
Vier Stunden zuvor war er nach tiefem Grübeln endlich eingeschlafen, als der Lärm in seinem Kopf allmählich nachgelassen hatte. Er hatte sich in einem Wald zwischen den Bäumen wieder gefunden. Regentropfen drangen durch das Blattwerk, während weiter draußen die Sonne schien. Auf dem Pfad vor ihm stand ein Auto. Es war weiß und hatte verrückte Proportionen. Jemand hatte seinen Namen gerufen, eine Kinderstimme, und Winter hatte am Auto vorbei aufs Meer hinaus geblickt, das auf einmal dort begann, wo der Pfad endete. Ein Schiff, das aussah wie aus einer Zeichnung gerissen, trieb auf dem Wasser, und Winter hatte ein Gesicht gesehen, das er nicht kannte. Das Gesicht hatte ihn aus dem Auto angeschaut, und um es herum hatte rotes Haar geglänzt, und dann hatte er es genauer betrachtet: Es war das Gesicht eines Kindes, und das Gesicht war immer größer geworden, bis es größer war als das Fenster. Winter hatte sich an die Reling des Schiffs gelehnt und hinter einem Schuh hergeschaut, der in den Wellen schwamm. Am Horizont sah er einen Leuchtturm, aber als Winter näher kam, war es eine Windmühle gewesen, die die Arme schwenkte, und er hatte ein Gesicht erblickt, das zu einer Uhr geworden war, auf der die Zeiger Lippen waren, die sich bewegten. Die Sonne hatte durch den Regen hindurchgeblitzt. Eine Flagge hatte über der Mühle im Wind geflattert, aber die Mühle war eine Uhr gewesen, die Pfeile dorthin schoss, wo er in einem Auto auf einem Weg durch den Wald fuhr. Er saß am Steuer und hielt ein kleines Mädchen an der Hand, das ihm mit einem Finger die Fahrtrichtung wies. Er hatte auf seine Füße geblickt, und an dem einen hatte ein Kinderschuh gebaumelt, an einem Riemen, der über seine Zehen gezogen war.
Dies letzte Bild wollte ihm nicht aus dem Kopf: Die Riemen eines Kinderschuhs an seinen Zehen.
Winter schlenderte über den Kungstorget. Die Marktstände wurden für den Tag aufgebaut. Gemüse und Obst wurden in Kisten von Lastwagen zu den Ständen getragen. Winter genoss die Verheißung, die in der Wärme und den Gerüchen dieses Morgens lag. Er betrat ein Cafe auf der anderen Seite des Kungsportsplatsen und bestellte einen Cafe au lait und zwei Brötchen mit Butter und Käse. Dann setzte er sich ans Fenster und beobachtete, wie das Stadtbüro der Abendzeitung aufmachte. Eine junge Frau hängte Plakate auf. Winter konnte sie von seinem Platz aus nicht lesen, aber er versuchte zu erraten, was da stand. Die Medien hatten den Mord und das Verschwinden des Mädchens »in a big way« behandelt, wie Wellman es am Vortag bei einer kurzen Nachmittagskonferenz ausgedrückt hatte. So war es eben. Das war selbstverständlich, und Winter konnte nur hoffen, dass dadurch nicht allzu viel Ermittlungsarbeit zunichte gemacht würde. Bisher waren auf die Medienberichte hunderte von Tipps eingegangen, vielleicht sogar tausende. Winter hatte so viele davon bearbeitet, wie er vermochte, und versucht, alles ernst zu nehmen, was ihm diesen Ernst wert schien. Bei vielen stand der Wille zu helfen im Vordergrund, aber auch der Schrecken über das, was passiert war. Denn was einmal geschehen war, konnte jederzeit wieder passieren.« Und jeder könnte der Nächste sein.
Winter erhob sich und wanderte nordwärts zum Brunnsparken, wo er sich an die Haltestelle der Linie 2 stellte und wartete. Jennie hatte eine Straßenbahn mit einer 2 draufgemalt. Also war sie vielleicht öfter mit der Bahn gefahren, wahrscheinlich zusammen mit ihrer Mutter... Helene.
Sie hatten mit den Straßenbahnfahrern gesprochen, aber keiner hatte die Gesichter wieder erkannt. Sie würden sich nie die Leute so genau ansehen, die bei ihnen mitfuhren. Vielleicht aus einer Art Selbstschutz. In der Nähe von Norra Biskopsgärden hatten sie auch Fotos herumgezeigt, aber keiner wusste etwas, keiner erkannte jemanden wieder.
Einige der Fotografien musste jemand anders aufgenommen haben. Eine Serie Bilder von dem Mädchen war ein Jahr zuvor in einem Atelier am Vägmästarenplatsen gemacht worden. Der Fotograf konnte sich daran erinnern, aber mehr nicht. Das war alles, was sie hatten. Die wenigen anderen Bilder, die sie von Jennie in Helenes Wohnung gefunden hatten, waren mit einer oder mehreren Kameras aufgenommen worden, die sie aber nicht entdeckt hatten.
Jemand hatte Bilder von Helene allein
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