Die Schattenfrau
daraus?«
»Dass du dich wohl geehrt fühlen darfst und das hier ernst ist. Ich glaube, deine Ankunft hat einigen Staub aufgewirbelt.«
»Wir sind irgendwem zu nahe gekommen.«
»Ja. Das erschreckt und freut mich zugleich.«
»Jetzt müssen wir nur noch den letzten Bankräuber finden«, sagte Winter.
»Du glaubst, dass er noch lebt?«
»Ja. Er hat ihren Vater getötet, und er hat Helene Andersen getötet.«
Michaela Poulsen blickte ihn fragend an, die halb volle Flasche in der Hand: »Nach fünfundzwanzig Jahren. Warum?«
»Ich versuche gerade, das herauszufinden. Unter anderem bin ich deshalb hier.«
»Er hätte es doch gleich tun können.«
»Nein. Vielleicht hatte er das vor... aber es kam was dazwischen. Vielleicht ist ihm Kim Andersen in die Quere gekommen.«
»Und was ist mit der Mutter passiert? Mit Brigitta?«
»Er hat sie auch getötet«, erklärte Winter. »Er tötete Kim Andersen und Brigitta Dellmar, und das Kind wurde nach Schweden gebracht. Auf diese Weise sollte die Fährte verwischt werden.«
»Warum dann Helene nach so langer Zeit töten?«
»Keine Ahnung. Etwas ist passiert. Irgendwas. Vielleicht hat sie was erfahren. Sie hat rausbekommen, wer es war. Hat ihn zur Rede gestellt. Den Mann, der ihre Mutter und ihren Vater getötet hat. Ich glaube, wir suchen die ganze Zeit nur einen einzigen Mörder.«
»Und ein Kind«, erinnerte ihn Michaela Poulsen. »Eine furchtbare Geschichte.« Sie stellte ihre leere Flasche auf die Theke. »Theorien. Aber die Frage ist doch, was unsere Motorradgangs damit zu tun haben.«
»Dass sie was damit zu tun haben, beweist doch unser Beschatter.«
»Vielleicht wissen die etwas«, überlegte Michaela Poulsen. »Es fragt sich auch, ob nicht von Anfang an mehr als die fünf in die Sache verwickelt waren.«
»Sechs«, sagte Winter. »Du vergisst das Kind. Helene.«
»Und dein Mörder? Ist er mit nach Schweden gegangen oder ist er noch in Dänemark? Hier in Aalborg?«
»Er ist vielleicht gerade eben draußen auf der Straße vorbeigegangen«, scherzte Winter. »Nein, aber der Mord im August in Göteborg, der würde zwar nicht beweisen, dass der Typ in Dänemark lebt, aber zu dem Zeitpunkt war er dort.«
»Wenn es nur einer ist«, wandte Michaela Poulsen ein. Winter nickte stumm.
»Man könnte auch eine andere Theorie vertreten«, meinte sie. »Dass es nur eine überlebende Person aus der Gruppe der Bankräuber gibt, und da rechne ich alle sechs. Nur dass es auch eine Frau sein könnte. Brigitta Dellmar.«
Wieder nickte Winter.
»Du siehst auf einmal ganz blass aus«, sagte sie. »Ich bestimmt ebenso. Ein grässlicher Gedanke.«
»Dann hätte sie ihr eigenes Kind töten lassen?«
»Vielleicht hatte sie keine andere Wahl. Vielleicht wusste sie es nicht. Du weißt genauso gut wie ich, dass wir uns hier am Rand menschlicher Abgründe bewegen.«
»Ja«, erwiderte Winter, »das gehört zur Arbeit.«
»Aber das ist ja nur 'ne Theorie«, sagte Michaela Poulsen.
Winter sah sich auf dem Boulevard um. Niemand wartete vor der Kneipe an der Ecke. Niemand stand am Fens ter. Einige Zecher grölten vor der Mallorca Bar.
Er machte es genauso wie am Abend zuvor.
Als er im Halbdunkel seines Zimmers stand, sah er den Mann vom Vortag dicht unter dem Fenster vorbeigehen.
Das Handy vibrierte, das er mit sich herumgetragen hatte, obwohl es unbrauchbar war. Er nahm es aus der Innentasche und betrachtete es zweifelnd. Angelas Nummer leuchtete im Display auf. Er antwortete.
»Ich bin's bloß«, sagte sie.
»Hast du schon mal versucht anzurufen?«
»Nein. Wieso?«
»Es hat nicht mehr funktioniert, seitdem ich hier bin.« »Kann das nicht sein, wenn man ins Ausland fährt?« »Nur wenn das Abonnement neu ist.«
»Aber jetzt funktioniert es. Wie geht es dir, Erik? Wie ist es in Aalborg?« Was sollte er darauf antworten? »Unheimlich«, sagte er.
52
Regen prasselte gegen die Fensterscheibe und weckte Winter vor dem Wecker. Draußen war es noch dunkel, kein Lichtstrahl, der ihm den Weg durchs Zimmer vom Bett zur Toilette erhellen konnte.
Winter schwang die Beine über die Bettkante, und als er Richtung Bad ging, stieß er sich am Nachttisch einen Zeh. Das passierte ihm mindestens einmal zu jeder Jahreszeit.
Er fluchte und setzte sich, um den Zeh zu massieren. Als er nur noch einen dumpfen Schmerz verspürte, stand er auf, um zu verrichten, wozu es ihn drängte.
Als er wieder im Bett lag, blickte er zur Decke. Ihm fiel Beate M0ller ein, die er nun doch nicht gesehen
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