Die Schattenfrau
paar Zentimeter über dem Namensschild »H. Andersen« eine Kinderzeichnung hing. Winter beugte sich vor. Die Zeichnung stellte ein Schiff auf dem Wasser dar. Der Himmel war zweigeteilt. Rechts vom Schiff regnete es, und links schien die Sonne. Das Schiff hatte runde Fenster, und in einem davon waren zwei Augen zu sehen, eine Nase und ein Mund. Der Mund war ein gerader Strich. Ein Stück weiter unten hatte ein Kind »jeni« ins Wasser geschrieben.
Winter richtete sich auf und klingelte. Der Ton war so schrill, dass er zusammenfuhr. Oder klang es nur in seinen Ohren so laut?
Er klingelte noch einmal und hörte wie das Geräusch verschluckt wurde, als herrsche auf der anderen Seite der Wand in der Wohnung auch Nebel. Ringmar bückte sich, hob mit der behandschuhten Hand die Klappe des Briefeinwurfs hoch und versuchte hineinzublicken. Er sah einen bunten Reigen von Reklameschreiben und den Schimmer eintöniger Umschläge.
Winter klingelte ein drittes Mal. Wieder das gleiche Geräusch. Plötzlich wünschte er sich weit fort. Als hätte ihn Angst überkommen vor dem, was er drinnen sehen würde. Was ihn dort erwartete. Er schloss kurz die Augen und schluckte, und das Dröhnen in seinem Kopf ließ wieder nach. Er nickte dem Schlosser zu, und der Mann drehte ohne Probleme den Schlüssel ins Schloss, den er bereitgehalten hatte. Ein Sicherheitsschloss gab es nicht.
Die Tür ging nach außen auf. Als Erstes sahen sie den kleinen Berg Papier auf dem Läufer direkt dahinter und das Dunkel im Flur. In dem Zimmer am Ende des Flurs war ein Fenster zu erahnen, ein Rechteck aus schwachem Licht. Winter bat die andern zu warten und betrat vorsichtig die Wohnung, nachdem er die Fußschützer aus Plastik, die er aus der Manteltasche genommen hatte, übergezogen hatte. Er ging langsam durch den Flur. Die Stille wurde gestört vom leisen Brummen des Kühlschranks, den er jetzt links von sich sehen konnte, durch die Küchentür. Er wusste, dass die Küche auf den Hof ging, genau wie bei Ester Bergman. Es roch verlassen hier drinnen und nach Staub, der sich in der eingesperrten Luft angesammelt hatte. Winter schritt weiter. Rechts befand sich eine Tür, die geschlossen war. Das Zimmer geradeaus musste das Wohnzimmer sein. Winter spürte seine Konzentration wie eine Klammer aus Eisen um sein Gehirn. Seine Dienstwaffe scheuerte mehr denn je in der Achselhöhle, und er verspürte einen starken Drang, sie zu ziehen. Er starrte die geschlossene Tür an und ging vorsichtig durch die offene Tür ins Wohnzimmer. Ein Sofa. Tisch und Sessel. Eine kleine Vitrine und ein Fernseher. Eine Kommode. Welke Pflanzen auf zwei schmalen Gestellen unter den Fenstern. Ein Teppich auf dem Boden. Ein Gemälde, auf dem eine Indianerin abgebildet war, hing an der Wand über dem Sofa. Das schwache Licht von den Fenstern war ihm nun eher hinderlich. Winter trat ein paar Schritte zurück und zog die Waffe. Jetzt stand er vor der geschlossenen Tür, drückte die Klinke herunter und öffnete mit einem Ruck, während er sich gleichzeitig an die Wand im Flur presste. Er lauschte, hörte aber nur sein eigenes Atmen und die Geräusche der drei an der Wohnungstür. Winter blickte sich in dem Zimmer um. Es war lang und schmal. Zu beiden Seiten des Zimmers stand je ein Bett, das kleinere an der hinteren Wand. Das Fenster ging auf den Hof. An der Schmalseite sah er Kleiderschränke. Eine der Türen stand offen. Die Wand über dem kleinen Bett war bedeckt mit angehefteten Zeichnungen. Winter bemerkte, dass das größere Bett leicht von der Wand abgerückt stand, wodurch das Zimmer breiter wirkte. Auf dem Fenster welkten weitere Pflanzen, aber im Gegenlicht konnte er nicht sehen, ob sie schon eingegangen waren. Das Fenster war geschlossen, und im Zimmer war es warm, als hinge der Sommer noch darin. Gemalte Sonnen leuchteten an mehreren Stellen über dem Bett des Mädchens. Auf einigen Zeichnungen regnete es, auf anderen gab es sowohl Regen als auch Sonnenschein. Ich möchte wissen, was das bedeutet, dachte Winter. Er richtete den Blick auf das größere Bett. Auf dem kleineren Nachttisch fand er das Telefon und ein leeres Glas.
Auf dem Tisch lag eine Zeitung, und daneben stand ein Farbfoto, das eine blonde Frau mit ihrem rothaarigen Mädchen zeigte. Winter trat näher heran. Die Frau auf dem Bild lächelte nur schwach, ließ kaum ihre Zähne sehen. Es war Helene. Winter fand, der Tod hatte ihr Gesicht nicht sehr verändert. Helene war Helene. Sie waren ein Stück
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