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Die Schattenhand

Die Schattenhand

Titel: Die Schattenhand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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beherrschte eine Burg Lymstock. Die Stadt war immer noch angesehen. Sie genoss Privilegien und Wohlstand.
    Und dann, irgendwann im achtzehnten Jahrhundert, schwemmte die Flut des Fortschritts Lymstock ins Abseits. Die Burg verfiel. Weder Bahngleise noch größere Straßen kamen in die Nähe von Lymstock. Es wurde zu einem Provinznest, einem unbedeutenden, in Vergessenheit geratenen Marktflecken inmitten von friedvollen Bauernhöfen und Äckern, oberhalb derer das Hochmoor begann.
    Jede Woche war Markt, dann begegneten einem auf allen Wegen und Straßen Schafe. Zweimal jährlich fand ein kleines Pferderennen statt, bei dem nur Pferde zwielichtigster Abstammung an den Start gingen. Die hübsche High Street war mit ehrwürdigen Häusern gesäumt, die alle ein Stück von der Straße zurückgesetzt standen, sodass die Brötchen oder das Obst und Gemüse in den Erdgeschossfenstern leicht deplatziert wirkten. Es gab ein Stoffgeschäft, lang gestreckt und mit vielen Anbauten, eine große, bedrohlich anmutende Eisenwarenhandlung, ein protziges Postamt, dazu eine Reihe bescheidener Läden ungewisser Ausrichtung, zwei miteinander konkurrierende Metzgereien und einen Lebensmittelladen. Es gab außerdem einen Arzt, eine Anwaltskanzlei, Messrs Galbraith, Galbraith & Symmington, eine schöne und unerwartet große Kirche aus dem Jahr 1420 mit ein paar Überbleibseln aus sächsischer Zeit, eine neue, potthässliche Schule sowie zwei Wirtshäuser.
    Das war Lymstock, und angeführt von Emily Barton machten uns alle, die irgendetwas darstellten, ihre Aufwartung; und nach angemessener Frist zog Joanna mit einem Paar eigens zu diesem Zweck angeschaffter Handschuhe und einem abgetragenen Samtbarett aus, um die Besuche zu erwidern.
    Für uns war all dies neu und unterhaltsam. Wir würden nicht bis ans Ende unserer Tage hier bleiben. Es war ein Intermezzo. Ich gedachte dem Rat meines Arztes zu folgen und meine Nase in die Angelegenheiten meiner Nachbarn zu stecken.
    Joanna und ich hatten unseren Spaß daran.
    Irgendwo im Hinterkopf hatte ich sicher auch Marcus Kents Bemerkung über die Dorfskandale. Aber ich ahnte nicht, auf welche Weise diese Skandale sich Einlass in mein Leben verschaffen sollten.
    Das Merkwürdige ist, dass der Brief uns zunächst in erster Linie amüsierte.
    Wir saßen beim Frühstück, als er kam, das weiß ich noch. Ich drehte ihn um, mit der müßigen Neugier eines Menschen, für den die Zeit langsam vergeht und der jedes Ereignis zur Gänze ausschöpfen muss. Er kam aus dem Ort, stellte ich fest, die Adresse war maschinengeschrieben.
    Ich öffnete ihn vor den beiden Umschlägen mit Londoner Poststempel, da der erste eine Rechnung enthielt und der zweite den Brief einer nicht gerade spritzigen Kusine.
    Zum Vorschein kam ein einzelnes Blatt Papier, beklebt mit Wörtern und Buchstaben, die aus einem Buch ausgeschnitten worden sein mussten. Ein, zwei Minuten starrte ich auf die Worte, ohne ihren Sinn zu begreifen. Dann entfuhr mir ein Laut der Bestürzung.
    Joanna, die stirnrunzelnd Rechnungen studierte, sah auf.
    «Hoppla», sagte sie. «Was ist denn? Du schaust ja völlig verschreckt.»
    Der Brief war mit Obszönitäten gespickt und verlieh der Meinung Ausdruck, dass Joanna und ich nicht Bruder und Schwester seien.
    «Es ist ein anonymer Brief», sagte ich, «und zwar ein ziemlich widerwärtiger.»
    Ich stand noch unter Schock. Es war nicht ganz das, womit man in einem beschaulichen Städtchen wie Lymstock rechnete.
    Joanna war sofort Feuer und Flamme.
    «Nein! Was steht denn drin?»
    In Romanen, ist mir aufgefallen, werden anonyme Briefe vulgären oder abstoßenden Inhalts nach Möglichkeit vor dem weiblichen Geschlecht verborgen gehalten. Frauen haben offenbar ein zu zartes Nervenkostüm, als dass ihnen dergleichen zugemutet werden könnte.
    Leider muss ich gestehen, dass es mir keine Sekunde in den Sinn kam, Joanna den Brief vorzuenthalten. Ich händigte ihn ihr unverzüglich aus.
    Mein Vertrauen in ihre Robustheit erwies sich als gerechtfertigt, denn ihre einzige Gemütsregung war Belustigung.
    «Was für ein ekliges Geschreibsel! Ich habe oft von anonymen Briefen gehört, aber gesehen habe ich noch nie einen. Sind sie immer so?»
    «Das darfst du mich nicht fragen», sagte ich. «Ich bin genauso unerfahren wie du.»
    Joanna kicherte.
    «Du hattest wohl doch Recht mit meinem Make-up, Jerry. Sie denken sicher, ich kann gar nichts anderes sein als verrucht.»
    «Erstens das», sagte ich, «und dann die Tatsache, dass

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