Die Schattenhand
Schande ist das. Eine Dame wie Miss Emily übern Tisch ziehen, die sich nicht auskennt mit Zahlen und solchen Tricks nicht gewachsen ist.»
«Es hat fast alle getroffen», sagte ich, aber das besänftigte Florence nicht.
«Das mag schon recht sein für Leute, die auf sich selber aufpassen können, aber nicht für sie. Sie braucht wen, der auf sie Acht gibt, und solang sie bei mir ist, braucht gar keiner daherkommen, der sie übers Ohr haut oder ihr Kummer macht. Ich würde alles tun für Miss Emily.»
Und nachdem sie uns noch ein paar Sekunden angefunkelt hatte, um dieser Ankündigung den gebührenden Nachdruck zu verleihen, ließ die unbezwingbare Florence uns allein, nicht ohne sorgsam die Tür hinter sich zuzuziehen.
«Fühlst du dich auch wie ein Blutsauger, Jerry?», wollte Joanna wissen. «Ich schon. Was machen wir nur falsch?»
«Irgendwie kommen wir nicht gut an», sagte ich. «Megan hat uns satt, Partridge hält nichts von dir, die treue Florence hält von uns beiden nichts…»
«Ich wüsste ja gern, warum Megan heim wollte», murmelte Joanna.
«Ihr war langweilig.»
«Den Eindruck hatte ich nicht. Ich frage mich – glaubst du, Aimée Griffith hat vielleicht etwas gesagt?»
«Du meinst, heute Morgen, als sie an der Haustür mit ihr geredet hat?»
«Ja. Viel Zeit war zwar nicht, aber…»
Ich beendete den Satz für sie.
«… aber diese Frau hat das Zartgefühl einer Elefantenkuh! Vielleicht hat sie…»
Die Tür flog auf, und herein kam Miss Emily, rosenwangig, atemlos und deutlich echauffiert. Ihre Augen waren sehr blau und glänzend.
Sie begann sofort, aufgeregt auf uns einzuzwitschern.
«Oje, es tut mir schrecklich Leid, dass ich so spät dran bin. Ich habe nur rasch in der Stadt ein paar Besorgungen gemacht, und das Gebäck im Blue Rose wollte mir nicht so richtig frisch scheinen, also bin ich weitergegangen zu Mrs Lygon. Ich kaufe mein Gebäck immer ganz als Letztes, dann bekommt man es ganz frisch aus dem Ofen und wird nicht mit dem vom Vortag abgespeist. Aber ich bin völlig außer mir, dass ich Sie habe warten lassen – wirklich unverzeihlich ist das…»
Joanna unterbrach sie.
«Es ist unsere Schuld, Miss Barton. Wir waren zu früh da. Wir sind zu Fuß gegangen, und Jerry legt inzwischen ein solches Tempo vor, dass wir überall zu früh ankommen.»
«Doch nicht zu früh, meine Liebe. Sagen Sie nicht so etwas. Nette Besucher können gar nicht früh genug kommen.»
Und die alte Dame tätschelte Joanna liebevoll die Schulter.
Joannas Stimmung hob sich. Endlich jemand, der sie zu würdigen wusste! Emily Barton weitete ihr Lächeln auf mich aus, aber mit einer gewissen Scheu, ein bisschen, als stünde sie vor einem reißenden Tiger, der für den Augenblick harmlos sein soll.
«Wie freundlich von Ihnen, Mr Burton, dass Sie zu einer so unmännlichen Mahlzeit wie Tee kommen!»
In Emily Bartons Vorstellung kippten Männer offenbar einen Whiskey Soda nach dem anderen, pafften dicke Zigarren und verführten zwischendurch rasch ein paar Dorfmaiden oder hatten eine Affäre mit einer verheirateten Frau.
Als ich das später Joanna sagte, meinte sie, es handele sich da wohl eher um Wunschdenken – wahrscheinlich habe Emily Barton einem solchen Mann zu begegnen gehofft, es zu ihrem großen Leidwesen aber nie getan.
Miss Emily machte sich indessen emsig zu schaffen, rückte ein Tischchen vor mich und eins vor Joanna, auf die sie gewissenhaft Aschenbecher stellte, und gleich darauf öffnete sich die Tür, und Florence erschien mit einem Teebrett mit vornehmen Crown-Derby-Tassen, die wohl Miss Emily ins Haus gebracht hatte. Es gab köstlichen chinesischen Tee und dazu Platten mit Kanapees und hauchdünnen Butterbroten und Gebäck in Hülle und Fülle.
Florence strahlte jetzt und sah Miss Emily mit dem Wohlgefallen einer Mutter an, deren Lieblingskind seinen Puppen die Tafel gedeckt hat.
Joanna und ich aßen viel mehr, als wir eigentlich wollten, weil unsere Gastgeberin uns so eifrig nötigte. Der kleinen Dame machte ihre Teegesellschaft den größten Spaß, und mir wurde klar, dass Joanna und ich für Emily Barton ein ungeheures Abenteuer darstellten, zwei Menschen aus dem geheimnisvollen London, der Welt des Geistes und der Extravaganz.
Wie nicht anders zu erwarten, wandte sich unser Gespräch bald hiesigen Themen zu. Miss Barton pries in den höchsten Tönen Dr. Griffith, seine Freundlichkeit, seine Tüchtigkeit als Arzt. Und Mr Symmington – ein so tüchtiger Anwalt, er hatte ihr zu
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