Die Schattenhand
Kirche traf ich auf Mr Pye. Er plauderte mit Emily Barton, deren Wangen vor Aufregung glühten.
Mr Pye begrüßte mich mit allen Anzeichen der Freude.
«Ah, Burton, guten Morgen, guten Morgen! Was macht Ihre reizende Schwester?»
Joanna gehe es gut, sagte ich.
«Aber unserem Dorfparlament tritt sie nicht bei? Wir sind überwältigt von den Neuigkeiten. Mord! Ein Mord wie aus der Sonntagszeitung, hier in unserer Mitte! Kein allzu interessantes Verbrechen, leider Gottes. Eher unerquicklich. Brutaler Mord an einem kleinen Dienstmädchen. Keinerlei Delikatesse in der Ausführung, aber dennoch unbestreitbar eine Sensation.»
Miss Barton sagte mit bebender Stimme: «Es ist ein Schlag – ein furchtbarer Schlag.»
Mr Pye drehte sich zu ihr.
«Aber Sie genießen es, meine Liebe, Sie genießen es. Gestehen Sie’s nur. Sie sind entsetzt, erschüttert, aber ein Kitzel ist trotzdem dabei. Ich bestehe darauf, ein Kitzel ist dabei!»
«So ein liebes Mädchen», sagte Emily Barton. «Ich hatte sie aus dem St. Klothildenheim. Völlig ungeformt. Aber sehr gelehrig. Sie hatte sich zu so einem netten kleinen Hausmädchen gemausert. Partridge war sehr zufrieden mit ihr.»
«Sie wollte gestern Nachmittag zu Partridge zum Tee kommen», flocht ich hastig ein. Ich wandte mich an Pye. «Das hat Ihnen Aimée Griffith ja wahrscheinlich erzählt?»
Mein Ton war beiläufig. Pye erwiderte ohne erkennbaren Argwohn: «Sie hat es erwähnt, ja. Ich weiß noch, sie meinte, das seien ja ganz neue Sitten, dass Dienstboten einander auf dem Apparat ihrer Herrschaft anriefen.»
«Partridge würde so etwas nicht im Traum einfallen», erklärte Miss Emily, «und es überrascht mich sehr, dass Minnie es getan hat.»
«Sie gehen nicht mit der Zeit, meine Liebe», sagte Mr Pye. «Meine beiden Plagegeister benutzen ununterbrochen das Telefon, und bis ich ein Machtwort gesprochen habe, haben sie auch im ganzen Haus geraucht. Aber zu große Striktheit ist natürlich auch riskant. Prescott mag launenhaft sein, aber er kocht göttlich, und Mrs Prescott ist ein vorzügliches Haus- und Stubenmädchen.»
«Ja, um die zwei beneiden wir Sie alle.»
Ich schaltete mich ein, bevor sich die Unterhaltung gänzlich in Haushaltsfragen verlor.
«Die Nachricht von dem Mord hat sich ja sehr rasch herumgesprochen», sagte ich.
«Gewiss, gewiss», sagte Mr Pye. «Der Bäcker, der Bauer, der Fleischbeschauer. Auftritt: die öffentliche Meinung, über und über mit Zungen bemalt. Lymstock, Gott sei’s geklagt, geht vor die Hunde. Anonyme Briefe, Morde, verbrecherische Umtriebe aller Art.»
Emily Barton fragte nervös: «Es meint doch niemand… die Leute denken nicht… dass… dass die beiden Sachen zusammenhängen?»
Mr Pye fing sofort Feuer.
«Eine höchst interessante These. Die Kleine wusste etwas, darum musste sie aus dem Weg geräumt werden. Ja, ja, äußerst viel versprechend. Wie schlau, dass Sie darauf gekommen sind.»
«Ich – ich ertrage das nicht.»
Emily Barton sagte es abrupt und trippelte eilig davon.
Pye sah ihr nach. Sein rundes, rosiges Gesicht legte sich in sinnende Fältchen.
Dann wandte er sich wieder mir zu und schüttelte sachte den Kopf.
«Ein empfindsames Gemüt. Reizendes Geschöpf, finden Sie nicht auch? Ein echtes Sammlerstück. Sie gehört nicht ihrer Generation an, sondern der Generation davor. Die Mutter muss eine ungewöhnlich willensstarke Frau gewesen sein. Sie hat die Uhr schätzungsweise anno achtzehnhundertsiebzig angehalten. Die ganze Familie unter einen Glassturz gestellt. Solche Funde können mich immer wieder begeistern.»
Ich wollte nicht über Sammlerstücke reden.
«Was halten Sie denn nun wirklich von diesen Geschichten?», fragte ich.
«Als da wären?»
«Anonyme Briefe, Mord…»
«Unsere dörfliche Verbrechenswelle? Was halten Sie denn davon?»
«Ich habe zuerst gefragt», sagte ich liebenswürdig.
Mr Pye erwiderte sanft: «Wissen Sie, mein Spezialgebiet sind Abweichungen von der Norm. Sie faszinieren mich. Leute, denen man es nie zugetraut hätte, tun die unglaublichsten Dinge. Nehmen Sie den Fall Lizzie Borden. Da gibt es praktisch keine vernünftige Erklärung. Im vorliegenden Fall würde mein Rat an die Polizei lauten: Betreibt Charakterstudien. Vergesst eure Fingerabdrücke und eure Handschriftenvergleiche und eure Mikroskope. Achtet stattdessen darauf, was die Leute mit ihren Händen anstellen, was für Manierismen und Ticks sie haben und ob sie manchmal ohne ersichtlichen Grund lachen.»
Ich zog
Weitere Kostenlose Bücher