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Die Schattenhand

Die Schattenhand

Titel: Die Schattenhand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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normalen glücklichen Menschen insgeheim hasst – und dass ihm dieses Spielchen eine perverse künstlerische Befriedigung verschafft?»
    «Graves hat gesagt, eine ältliche Jungfer.»
    «Mr Pye», erwiderte Joanna, «ist eine ältliche Jungfer.»
    «Ein Außenseiter», sagte ich bedächtig.
    «Etwa nicht? Er ist reich, aber Geld ist nicht alles. Und ich glaube nicht, dass er psychisch sehr stabil ist. Für mich ist er ein ziemlich beängstigender kleiner Mann.»
    «Er hat selber einen Brief bekommen, vergiss das nicht.»
    «Dafür haben wir keinen Beweis», erinnerte Joanna mich. «Es war nur eine Vermutung. Und außerdem hätte es auch gespielt sein können.»
    «Um uns zu täuschen?»
    «Ja. Er ist gescheit genug, um sich so etwas einfallen zu lassen – und nicht zu dick aufzutragen.»
    «Dann wäre er aber ein erstklassiger Schauspieler.»
    «Natürlich, Jerry, wer immer hinter dieser Sache steckt, muss ein erstklassiger Schauspieler sein. Genau darin besteht doch der Reiz.»
    «Um Gottes willen, Joanna, sprich nicht so verstehend! Es klingt ja fast, als würdest du – als könntest du dich in diese Person hineinzuversetzen.»
    «Das kann ich auch, glaube ich. Ich sehe es lebhaft vor mir. Wenn ich nicht Joanna Burton wäre… wenn ich nicht jung und einigermaßen attraktiv wäre und imstande, das Leben genießen… wenn ich sozusagen hinter Gittern säße und zuschauen müsste, wie die anderen sich amüsieren… würde dann nicht schwarzer Hass in mir aufwallen, eine Lust daran, wehzutun, zu quälen… sogar zu zerstören?»
    «Joanna!» Ich packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. Sie japste leise, ein Schauer durchlief sie, und dann lächelte sie mich an.
    «Du hast es mit der Angst zu tun gekriegt, stimmt’s, Jerry? Aber ich glaube, dass das der richtige Weg ist. Du musst in die Person hineinkriechen, du musst herausbekommen, was in ihr vorgeht, was sie zu ihrem Handeln treibt, dann – und nur dann – weißt du vielleicht, was sie als Nächstes tun wird.»
    «Na großartig», sagte ich. «Und ich bin hierher gekommen, um dem Stumpfsinn zu frönen und Anteil an all den netten kleinen Dorfskandalen zu nehmen. Nette kleine Dorfskandale! Verleumdung, Verunglimpfung, Obszönitäten und Mord!»
     
    II
     
    Joanna hatte richtig prophezeit. Die ganze High Street entlang standen eifrige Grüppchen beisammen. Ich nahm mir vor, so viele Meinungen wie möglich einzuholen.
    Der Erste, der mir begegnete, war Griffith. Er sah elend und müde aus. So elend und müde, dass ich stutzig wurde. Sicher, auch für einen Arzt ist Mord kein täglich Brot, aber sein Beruf sollte ihn gegen vieles im Leben wappnen, nicht zuletzt gegen Leid, die Schattenseiten der menschlichen Natur und den Tod.
    «Sie sehen ziemlich erledigt aus», sagte ich.
    «Meinen Sie?» Er sagte es unbestimmt. «Ja, ich habe ein paar Fälle, die mir Sorgen machen.»
    «Darunter unsere gemeingefährliche Irre?»
    «Das auch, sicher.» Er sah hinüber zur anderen Straßenseite. An seinem Augenlid zuckte ein kleiner Nerv.
    «Sie haben keinen Verdacht, wer es sein könnte?»
    «Nein. Nein. Ich wollte bei Gott, ich hätte einen.»
    Dann erkundigte er sich unvermittelt nach Joanna und sagte stockend, er habe einige Fotos dabei, die sie habe sehen wollen.
    Ich erbot mich, sie ihr mitzunehmen.
    «Ach, nicht so wichtig. Ich muss nachher ohnehin noch in Ihre Richtung.»
    Langsam fürchtete ich, dass es Griffith bös erwischt hatte. Zum Henker mit Joanna. Griffith verdiente es nicht, dass sein Skalp an ihrem Gürtel landete.
    Ich ließ ihn weiterziehen, denn ich hatte seine Schwester entdeckt, und ausnahmsweise wollte ich sie sprechen.
    Aimée Griffith hielt sich nicht unnötig mit Vorreden auf.
    «Wie schauderhaft!», rief sie. «Ich höre, Sie waren recht früh dort?»
    Eine Frage schwang in ihren Worten mit, und ihre Augen glitzerten bei dem Wort «früh». Ich würde ihr nicht auf die Nase binden, dass Megan mich angerufen hatte. Stattdessen sagte ich:
    «Ja, ich war gestern Abend etwas in Sorge. Das Mädchen sollte unsere Haushälterin zum Tee besuchen, ist aber nicht gekommen.»
    «Und da haben Sie gleich das Schlimmste befürchtet? Haben Sie einen Riecher!»
    «Tja», sagte ich. «Ein Bluthund in Menschengestalt.»
    «Es ist der erste Mord, den wir in Lymstock je hatten. Alle sind ganz aus dem Häuschen. Hoffentlich weiß die Polizei, was sie zu tun hat.»
    «Keine Sorge», sagte ich. «Das sind fähige Leute.»
    «Ich erinnere mich nicht mal, wie die

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