Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
die Sachen über und fühlte sich sogleich wohl darin. Keine Assassinenuniform und auch keine Einbrecherkluft mehr, das war etwas Neues, Hoffnungsvolles.
Ihr Blick fiel auf die Kleider, die sie gerade abgelegt hatte. Neben dem Schwarz des Leders stach etwas Weißes hervor, und ihr Herz machte einen Sprung. Der Brief ihres Meisters. Sie nahm ihn in die Hand. Er war verblichen und zer knittert von den unzähligen Malen, da sie ihn gestreichelt und gelesen hatte. Wieder einmal öffnete sie ihn längs der tiefen Falten, die sich gebildet hatten, fuhr mit den Fingerspitzen über die Tinte, über die Risse im Papier. Wie viele Tränen hatte sie in all den Jahren schon darüber vergossen? Ich glaube, ich liebe dich. Ich liebe sie in dir.
Worte, die seinerzeit ihr Herz entflammt hatten vor Liebe und Schmerz. Jetzt erst verstand sie dieses Bekenntnis in seiner vollen Bedeutung, plötzlich war ihr alles klar. Sie faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn zurück zu ihren alten Kleidern. »Bist du fertig?«
Dubhe fuhr herum. In der Tür stand Lonerin, auch er nach Huye-Sitte gekleidet. Nur sein Wams war auf der Brust nicht mit einem Drachen, sondern mit einem mächtigen Baum mit verschlungenen Asten und großen Blättern bestickt. »Ja«, nickte sie, während sie zu ihrer Krücke griff.
Auf dem Weg erzählte ihr Lonerin, was sie für die Abendgesellschaft noch wissen sollte, erklärte ihr, dass das Dorfoberhaupt von den Bewohnern gewählt wurde, um die Geschicke der kleinen Gemeinschaft zu lenken, und dass die Hütte, zu der sie unterwegs waren, um den großen Vater des Waldes herum errichtet worden war.
»Die Huye verehren zwei Götter: einen für den Wald, den Vater des Waldes, und einen für die Tiere, den Makhtahar oder Erddrachen. Und dieses Dorf hier ist besonders begünstigt, weil es hier ein Drachennest gibt.« »Und warum diese Einladung?«
»Das Dorfoberhaupt möchte mit uns reden. Er heißt Ghuar. Ich habe mich schon mit ihm unterhalten und ihm unsere Geschichte erzählt, aber natürlich möchte er auch dich gern kennenlernen. Deswegen sind wir eingeladen worden zu dem heutigen Fest, das alle achtundzwanzig Tage bei Vollmond zu Ehren des Vaters des Waldes gefeiert wird.« Dubhes Miene verdüsterte sich ein wenig. »Hast du ihm von mir erzählt?«
»Du meinst, ob er von dem Fluch weiß? Ja.«
»Und von meiner Lehrzeit und meinem Broterwerb?«
Lonerin schwieg einige Augenblicke.
»Er weiß, dass die Gilde hinter uns her ist, aber nicht, dass du eine Diebin bist.« Dubhe stöhnte. Das missfiel ihr, der Abend schien unter keinem guten Zeichen zu stehen.
Als sie jedoch den großen Saal betraten, lockerte sich sogleich ihre Anspannung. Eine große Tafel war um den mächtigen Stamm herum errichtet worden. Dieser Vater des Waldes hier war zwar merklich kleiner als jener, auf den sie auf ihrer Wanderung gestoßen waren, doch gehörte er zur selben Familie, und die gleiche geheimnisvoll mystische Faszination ging von ihm aus. Es war, als strahle er das Licht aus, das den Raum erhellte.
An der Tafel saß praktisch die ganze Dorfgemeinschaft in Festtagstracht. Die Frauen trugen farbenfrohe, fantasievoll gemusterte Kleider, während die Männer über ihre gewöhnlich nackten Oberkörper Wamse gezogen hatten, die mit den unterschiedlichsten roten Figuren bestickt waren. Auffallend prachtvoll waren besonders die Frisuren der Frauen. Einige hatten sich bunte Bänder ins Haar geflochten, andere trugen Turbane aus langen, bunt dekorierten Stoffstreifen, wieder andere präsentierten sich mit kunstvollen Haartrachten, die mit allerlei Schmuck wie Drachenzähnen oder Vogelfedern, verziert waren. Lebhaftes Stimmengewirr erfüllte den festlich geschmückten und mit Fackeln stimmungsvoll erhellten Saal.
Für Dubhe und Lonerin waren Plätze neben dem Dorfoberhaupt reserviert. Der Mann war gar nicht so alt, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Sein dichter Bart war zu dünnen Zöpfen geflochten, und sein langes Haar glänzte in einem Blau, so dunkel wie die Nacht. Die Beine übereinandergeschlagen, saß er wie alle anderen an der Tafel auch auf einem Kissen und lächelte freundlich seinen Gästen zu.
Lonerin begrüßte ihn in der Sprache dieses Dorfes, während Dubhe den Gnomen nur verlegen anlächeln konnte.
Ghuar musterte sie mit wohlwollender Miene. »Keine Sorge, wir können uns auch in einer Sprache unterhalten, die du verstehst«, sagte er, ebenfalls lächelnd. Er sprach fehlerlos, nur mit einem leicht fremden
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