Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
einen Moment. »War das ein Faustschlag?«
»Ja. Als ich mit diesem Mann allein war, habe ich alles versucht, um mich zu befreien. Aber er hat mich bewusstlos geschlagen, und einen Zahn habe ich auch verloren.«
Ido wusste nicht, was er sagen sollte. Wie oft schon war er in Situationen gewesen, jemanden trösten zu müssen: junge Ehefrauen, Mütter, Söhne, Freunde, Waffenkameraden. Aber er war nie gut darin gewesen. Angesichts großen Schmerzes fühlte er sich einfach unfähig. »Das bekommen wir schon wieder hin.«
Etwas Banaleres hätte er nicht sagen können. Aber er war eben müde und hatte starke Schmerzen. »Jedenfalls reiten wir zu den unterirdischen Kanälen.«
»Zu den Kanälen? Wo Nihal damals auch war?« San schien plötzlich neugierig geworden.
Auch aus seinem Mund klang dieser Name, Nihal, genauso, wie wenn andere ihn aussprachen: Es war der Name einer Heldin, einer Legende, nichts anderes. »Ja, genau die.« San lehnte den Kopf zurück gegen Idos Schulter. Seine Wangen waren jetzt feucht.
»Dass ich mal dorthin kommen würde, hätte ich nie geglaubt. Papa hat mir oft davon erzählt ...«
Erneut schwieg er, und Ido merkte, wie ihm die Worte über die Lippen kamen, ohne dass er es eigentlich wollte. »Glaub mir, San, ich habe alles versucht, um ihn zu retten. Aber es war nichts mehr zu machen. Ich kam zu spät.« Der Junge richtete sich auf. »Aber du hast ihn noch gesehen?«
»Ja, ich war bei ihm, bis er starb.« »Und Mama?«
»Deine Mutter war schon tot, als ich kam.«
San legte wieder den Kopf auf Idos Schulter, vergrub das Gesicht im Stoff seines Wamses und begann, heftig zu schluchzen. Ido hätte ihn gern getröstet, ihn umarmt, ihm versichert, wie gut er seinen Schmerz verstehen konnte. Aber es ging nicht, nicht jetzt, dort draußen waren sie noch zu ungeschützt, zunächst musste er sie in Sicherheit bringen.
So legte er ihm nur eine Hand auf die Schulter und drückte sie fest. Auch ihm selbst war zum Heulen zumute.
Eine einsame Wanderung
So schnell sie konnte, rannte Dubhe in den dichten Wald hinein. Die Wirkung des Schlafmittels, das sie zubereitet hatte, würde bis zum Morgengrauen anhalten, und in dieser Zeit musste sie versuchen, einen möglichst großen Vorsprung gegenüber ihren Verfolgern herauszuholen.
Immer noch fühlte sie sich nicht ganz bei Kräften, ihre Beine waren noch schwach, ihr Atem kurz. Und doch jubelte sie innerlich. Seit Ewigkeiten hatte sie sich schon nicht mehr so erleichtert gefühlt. Ihr Entschluss, aus Wut und Verzweiflung geboren, schien nun plötzlich alles verändert zu haben. Sie fühlte sich so frei wie vielleicht noch nie in ihrem Leben. Die Bestie, ihr drohendes Schicksal, auch der Tod, waren jetzt weit entfernt. Bevor vielleicht alles aus war, wollte sie versuchen, noch etwas Großes zu vollbringen, das ihrem Leben und ihrer Flucht einen Sinn geben konnte.
Erst als der Morgen schon fast vorüber war, machte sie halt, um ihren Durst zu stillen. Gierig trank sie aus der Feldflasche und stand dann, nach vorn gebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, da und versuchte, zu Atem zu kommen. Dabei fiel ihr auf, dass der Wald ringsum nicht mehr feindselig schwieg: Vielleicht würden die Geister ihr nun helfen, den richtigen Weg zu finden.
Plötzlich spürte sie, wie sich ihr Bauch zusammenkrampf-te. Die Bestie meldete sich und verlangte nach ihrem Mittel, nicht verwunderlich, denn lange schon hatte Dubhe keinen Schluck mehr genommen. Sie griff zu dem Fläschchen, das Lonerin ihr gegeben hatte. Ein bedrückendes Gefühl, dieses Fläschchen war das Letzte, was ihr von dem Freund geblieben war. Eine Hinterlassenschaft, kostbar und traurig zugleich.
Obwohl er ihr so entsetzlich fehlte, erinnerte sie sich seltsamerweise, wenn sie an ihn dachte, immer nur an diesen letzten Moment, als er den Steilhang hinunterstürzte, so als habe dieses Bild alles andere ausgelöscht. Der Hass, den sie da in seinen Augen gesehen hatte, war tief und unversöhnlich, und obwohl sie über einen Monat mit ihm unterwegs gewesen war, merkte Dubhe, dass sie ihn nicht richtig kannte. Im Grund war er ein Geheimnis für sie geblieben. Gern hätte sie ihn besser verstanden und ihm auch mehr von sich selbst erzählt, doch zu früh hatte der Tod sie getrennt. Für immer.
Wie bei meinem Meister, dachte sie zu ihrer eigenen Überraschung.
Sie riss sich aus ihren Gedanken. Es war zweifelhaft, ob ihr diese geringe Menge des Mittels reichen würde, bis sie vielleicht zu Sennar gelangte,
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