Die Schattenmatrix - 20
darin war, würde er durch das Feuer nur in der Luft verteilt. Wieso war er eigentlich davon überzeugt, dass in dem Säckchen Gift war? Wieso nahm er an, dass eine feindselige Absicht dahinter steckte? Mikhail trieb seinen müden Verstand an. Er hatte sich noch nie einem solchen Problem gegenübergesehen - wie man sich eines unbekannten Gegenstands entledigte, der möglicherweise gefährlich war. Wäre das Fenster nicht mit Brettern vernagelt gewesen, hätte er das Säckchen hinausgeworfen und sich am Morgen damit beschäftigt. Er besaß nun mal nicht dieses besondere Laran, das einem erlaubte, Dinge nur durch Anfassen zu analysieren, und bis zu diesem Moment hatte er sich auch nie nach dieser Gabe gesehnt. Was machte man wohl mit solchen Gegenständen? Wenn Verbrennen nicht in Frage kam, was dann? Versenken oder vergraben, beschloss er nach langem Überlegen; er fühlte sich, als wäre sein Gehirn mit Leim verklebt. Er war gewiss kein abergläubischer Bauer, aber es widerstrebte ihm, das Säckchen einfach in Ruhe zu lassen. Wenn es tatsächlich harmlos war, was er bezweifelte, spielte es keine Rolle, was er tat, aber wenn es gefährlich war, musste er sehr vorsichtig damit umgehen. Schließlich hielt er das Säckchen auf Armeslänge von sich gestreckt und trug es zum Abort, wo er es ins Loch fallen ließ. Dann nahm er den Eimer, der neben dem Sitz stand und leerte ihn in die Rinne. Er pumpte den Eimer sogar wieder halb voll für den nächsten Benutzer.
Sobald Mikhail das Ding los war, fühlte er sich weniger dumpf und müde. Möglicherweise bildete er sich das Ganze auch nur ein, aber er entschied, dass er auf jeden Fall besser vorsichtig sein sollte. Auf dem Rückweg zu seinem Zimmer begegnete er Mathias, der gerade die Treppe heraufkam, einen Stuhl aus dem Esszimmer in der einen Hand und eine Decke in der anderen. Sie sahen sich kurz an. Er spürte, dass Mathias, normalerweise ein sehr ausgeglichener Mensch, wegen ir-gendetwas beunruhigt war. Mikhail hätte ihn gerne gefragt, was denn los sei, aber aus dem verschlossenen Gesichtsausdruck des Gardisten folgerte er, dass Mathias es ihm schon sagen würde, wenn er wollte. Er empfand zu viel Respekt für seine Männer, um sie auszuhorchen.
Als Mikhail das Schlafzimmer wieder betrat, kam es ihm völlig normal vor, und er fand, dass er die Angelegenheit sehr gut gemeistert hatte. Es war zwar nur eine Kleinigkeit, aber sie beruhigte ihn sehr. Er zerrte die Betttücher wieder zurecht und zog die Stiefel aus. Einige Minuten lang saß er einfach nur am Kamin, wackelte mit den Zehen und schwelgte in stillem Vergnügen. Er sehnte sich nach dem Bett, nach Schlaf. Aber er würde erst ruhen, wenn er Marguerida erreicht, ihre Seele in seiner gespürt und ihr geistiges Lachen gehört hatte. Der Schlaf konnte noch ein paar Minuten warten. Mikhail holte seinen Matrixstein unter dem Rock hervor, nahm ihn vorsichtig aus dem seidenen Beutel und betrachtete ihn eingehend. Das Feuer spiegelte sich in den Facetten des Steins, während Mikhail langsam und tief atmete und sich in Trance versetzte. Gleichzeitig nahm seine Müdigkeit ab, und wenn er jetzt auch nicht
aufspringen und eine Gigue tanzen wollte, so war er zumindest nicht mehr so müde, dass er kaum noch aufrecht sitzen konnte. Mikhail konzentrierte sich, und der Raum schien sich langsam aufzulösen. Marguerida?
Er suchte ihre Nähe, das Bewusstsein ihrer einzigartigen Energie, und spürte, wie sie antwortete. Die Antwort war sehr weit entfernt, viel schwächer als sonst. Mikhail? Bist du das?
Ja, meine Geliebte.
Geht es dir gut? Du wirkst ein bisschen … nebelhaft.
Mikhail zögerte. Ein Teil von ihm wollte ihr all die seltsamen Dinge erzählen, die er in Haus Halyn entdeckt hatte, aber der andere Teil war dagegen. Er würde wie ein kompletter Narr dastehen, wenn er über zerbrochene Fensterscheiben und verstopfte Kamine jammerte. Und das Säckchen, das er gerade entsorgt hatte, war bestimmt völlig harmlos gewesen.
Ich bin ziemlich müde. In Haus Halyn geht es drunter und drüber, und ich habe hier als Erstes eine Stunde lang Ställe ausgemistet. Du hast Ställe ausgemistet? Das verstehe ich nicht, Mik. Domna Priscilla hat nur sehr wenig Personal.
Aha. Jedenfalls bin ich froh, dass du gut angekommen bist. Ich war schon in Sorge und habe mir vorgestellt, wie du von irgendwelchen Klippen stürzt und anderes dummes Zeug. Sie wirkte tatsächlich gedämpfter als die energische Frau, die er kannte. Vielleicht wurde sie seiner
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