Die Schattenplage
zurückbleiben und dich nach Lena rufen lassen«, erklärte Opa. »Ich hatte beim letzten Mal kein Glück.«
Kendra ging zum Ende des Stegs und blieb einige Schritte vom Rand entfernt stehen. Sie wusste, sie durfte auf keinen Fall so nah ans Wasser gehen, dass die Najaden sie packen konnten. »Lena, ich bin es, Kendra! Wir müssen reden.«
»Seht nur, wen der Sturm zusammen mit den heimatvertriebenen Landkriechern herbeigeweht hat!«, erklang eine hämische Frauenstimme unter dem Wasser.
»Ich dachte, die Marionette hätte sie längst erwürgt«, antwortete eine zweite Sprecherin.
Kendra runzelte die Stirn. Bei einem ihrer letzten Besuche am Teich hatten die Najaden Mendigo freigelassen. Die Puppe hatte damals noch den Befehlen der Hexe Muriel gehorcht, und sie hatte Kendra gepackt und sie zu dem Hügel gebracht, auf dem einst die Vergessene Kapelle gestanden hatte.
»Ihr könnt ebenso gut Lena rufen«, verkündete Kendra. »Ich habe ihr ein Geschenk mitgebracht, das sie sicher sehen will.«
»Du kannst ebenso gut auf deinen plumpen Stelzen davonhumpeln«, höhnte eine dritte Stimme. »Lena will nichts zu tun haben mit Landungeziefer.«
Kendra sprach jetzt noch lauter. »Lena, ich habe dir ein Foto von deinem Lieblings-Landungeziefer mitgebracht. Ein Foto von Patton!«
»Geh, und grab ein Loch, und leg dich hinein«, zischte die erste Stimme mit einem Anflug von Verzweiflung. »Selbst eine begriffsstutzige Luftjapserin sollte merken, wenn ihre Gesellschaft unerwünscht ist.«
»Werde alt und stirb«, keifte eine andere Najade.
»Kendra, warte!«, erklang eine vertraute Stimme, verträumt und melodisch. Lena kam in Sicht, ihr nach oben gewandtes Gesicht direkt unter der Oberfläche des Wassers. Sie sah noch jünger aus als bei Kendras letzter Begegnung mit ihr. In ihrem schwarzen Haar war keine Spur mehr von Grau.
»Lena«, sagte Kendra, »wir brauchen deine Hilfe.«
Lena musterte Kendra mit ihren dunklen, mandelförmigen Augen. »Du hast ein Foto erwähnt.«
»Patton sieht darauf sehr gut aus.«
»Was sollte Lena sich um irgendein trockenes altes Bild scheren?«, quäkte eine Stimme. Die anderen Najaden kicherten.
»Was brauchst du?«, erkundigte Lena sich ruhig.
»Ich habe guten Grund zu der Annahme, dass Patton ein zweites Artefakt nach Fabelheim gebracht hat. Ich spreche von den wichtigen Artefakten, von denen, die die Gesellschaft haben will. Weißt du etwas darüber?«
Lena sah Kendra an. »Ich erinnere mich. Patton hat mir ein Gelübde abgenommen, das Geheimnis niemandem preiszugeben, es sei denn, es wäre absolut notwendig. Er war so komisch, mit all seinen Rätseln. Als würde irgendetwas von alledem wirklich eine Rolle spielen.«
»Lena, wir müssen das Artefakt unbedingt finden. Fabelheim steht am Rand des Zusammenbruchs.«
»Schon wieder? Willst du das Foto gegen Informationen über das Artefakt eintauschen? Kendra, das Wasser würde es unweigerlich zerstören.«
»Nicht das Foto selbst«, sagte Kendra. »Nur einen kurzen Blick. Wie lange ist es her, seit du sein Gesicht gesehen hast?«
Für einen Moment wirkte Lena gekränkt, aber fast augenblicklich wurde sie wieder heiter und gelassen. »Verstehst du nicht, dass es unerheblich ist, das Artefakt zu finden? Alles dort oben endet. Alles ist flüchtig, eine Illusion, vergänglich. Alles, was du mir zeigen kannst, ist ein flaches Bild meines Geliebten, eine leblose Erinnerung. Der echte Mann ist tot. Und du wirst ebenfalls bald tot sein.«
»Wenn es nicht wirklich eine Rolle spielt, Lena«, sagte Opa von weiter hinten auf dem Steg, »warum erzählst du es uns dann nicht? Dir bedeutet die Information nichts, aber hier und jetzt, für die kurze Zeit, da wir leben und atmen, ist sie für uns wichtig.«
»Jetzt kläfft der Alte«, beklagte sich eine unsichtbare Najade.
»Antworte ihm nicht, Lena«, meinte eine zweite Stimme anfeuernd. »Warte einfach ab. Noch bevor du weißt, wie dir geschieht, ist er auch schon tot, du wirst sehen!«
Mehrere Stimmen kicherten.
»Hast du unsere Freundschaft vergessen, Lena?«, fragte Opa.
»Bitte, erzähl es uns«, sagte Kendra. »Für Patton.« Sie hielt das Foto hoch.
Lenas Augen weiteten sich. Ihr Gesicht brach durch die Wasseroberfläche, und sie formte mit den Lippen Pattons Namen.
»Zwing uns nicht dazu, dich runterzuziehen«, warnte eine Stimme.
»Fass mich an, und bei allem, was mir heilig ist, ich werde euch verlassen«, murmelte Lena, verzaubert von dem Bild in Kendras Hand. Dann wanderte
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