Die Schattenplage
erster Hand zu studieren. Wenn Sie mich helfen lassen, könnte ich Ihnen gewiss von Nutzen sein.«
»Wir haben schon wenig genug Personal, auch ohne Sie bewachen zu müssen«, entgegnete Opa.
»Schön«, sagte Vanessa. »Könnten Sie mir diesmal wenigstens die Handschellen abnehmen?«
Tanu schloss die Handschellen auf, und Vanessa trat wieder in die Kiste. Sie zwinkerte Seth zu. Er streckte ihr die Zunge raus. Oma schloss die Tür, die Kiste drehte sich und Dale tauchte wieder auf.
»Ich begann mir schon Sorgen zu machen, dass dies alles nur eine List war, um mich loszuwerden«, sagte Dale und schüttelte die Arme, als wische er sich unsichtbare Spinnweben von der Kleidung.
»Kam es Ihnen so vor, als hätten Sie lange Zeit in der Kiste verbracht?«, wollte Seth wissen.
»Es schien mir lange genug«, antwortete Dale. »Man verliert dort drin seine Sinne. Man kann nichts hören, kann nichts sehen, kann nichts riechen. Man beginnt jedwedes Gefühl zu verlieren. Es ist, als wäre man ein körperloser Geist. Beinahe entspannend, aber nicht auf sonderlich angenehme Weise. Man beginnt zu vergessen, wer man ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es Vanessa gelingt, Worte zu Sätzen zu formen, nachdem sie Wochen in dieser Leere verbracht hat.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob irgendetwas sie sprachlos machen könnte«, meinte Oma. »Sie ist so aalglatt wie nur was. Was immer wir tun, wir dürfen ihr nicht trauen.«
»Nein«, bestätigte Opa. »Aber sie könnte uns weiter von Nutzen sein, was wichtige Informationen betrifft. Sie benimmt sich, als hätte sie immer noch ein Ass im Ärmel, und sie ist keine Närrin, also hat sie wahrscheinlich auch eins. Wie können wir die Identität des Gefangenen mit der Kapuze enthüllen?«
»Könnte Nero in seinem Stein etwas gesehen haben?«, schlug Oma vor.
»Möglich«, sagte Opa. »Wenn nicht, besteht eine Chance, dass er immer noch etwas sehen könnte.«
»Ich werde zu ihm gehen und ihn fragen«, erbot sich Seth. Sein erster Besuch bei dem Klippentroll war sehr aufregend gewesen. Der habgierige Troll hatte ihn als Diener behalten wollen, als Gegenleistung dafür, dass er den Stein benutzen durfte, um Opa aufzuspüren.
»Du wirst nichts dergleichen tun«, sagte Oma. »Eine Massage hat ihn schon einmal dazu verlockt, uns zu helfen. Das gleiche Angebot könnte ihn abermals überzeugen.«
»Wie ich Nero kenne, wird er dich, nachdem er deine Fähigkeiten einmal gekostet hat, dazu bringen wollen, sich als seine dauerhafte Masseuse zu verpflichten, bevor er uns hilft«, wandte Opa ein. »Beim letzten Mal hatte er noch nie eine Massage gehabt. Der Reiz des Neuen war der Schlüssel. Du hast bewiesen, dass Neugier ihn dazu bringen kann, mehr zu wollen als nur Reichtümer.«
»Vielleicht ein besonderer Zaubertrank?«, warf Tanu ein.
»Etwas Modernes?«, versuchte Seth es. »Wie ein Handy oder ein Fotoapparat?«
Opa legte die Hände an die Lippen, als bete er. »Es ist schwer zu sagen, wie wir dieses Kunststückchen fertigbringen sollen, aber es lohnt den Versuch. Da durch die Seuche verwandelte Geschöpfe im Reservat herumlungern, könnte der schwierigste Teil darin bestehen, Nero überhaupt zu erreichen.«
»Was ist, wenn Nero ebenfalls von der Seuche betroffen ist?«, überlegte Dale laut.
»Wenn sie Kreaturen des Lichts dunkel macht, könnte sie dunkle Kreaturen noch dunkler machen«, spekulierte Tanu.
»Vielleicht hätten wir mehr Glück, wenn wir Coulter folgen«, warf Seth ein.
»Wir werden diese Fragen erst beantworten können, wenn wir eine Entscheidung getroffen haben und ein Risiko eingegangen sind«, sagte Opa. »Lasst uns darüber schlafen und morgen entscheiden.«
KAPITEL 9
Pfade
K endra wachte mit einem Schrei auf. Das nächtliche Brüllen des Donners verklang bereits. Sie war verwirrt und desorientiert. Der Lärm hatte sie so abrupt aus dem Schlaf gerissen wie ein Schlag ins Gesicht. Dies war bereits ihre zweite Nacht in der Verlorenen Mesa, aber das dunkle Zimmer kam ihr fremd vor, und sie brauchte einen Moment, um die rustikalen, aus knotigem Holz gemachten Möbel wiederzuerkennen.
War das Haus vom Blitz getroffen worden? Obwohl sie geschlafen hatte, war Kendra sicher, dass sie noch nie einen so lauten Donnerschlag gehört hatte. Es war, als hätte jemand unter ihrem Kissen eine Stange Dynamit gezündet. Sie richtete sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Ein greller Blitz zuckte, fast sofort begleitet von einer weiteren ohrenbetäubenden
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