Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
Zoe in seinen Armen zuckte zusammen, und Cale sah auf ihr Gesicht herab, das so blass war, dass es im Zwielicht regelrecht leuchtete. Selbst in ihrer Ohnmacht schien sie zu spüren, welche Gefahr unter den Kellern Schottlands lauerte, und Cale drückte sie fester an sich.
Auch er spürte die Präsenz des Wesens, das selbst die schlimmsten Dämonen fürchteten. Der Mantichor. Ein Dämon, in der Hölle geboren und mit einer solchen Gier ausgestattet, dass er nicht einmal davor zurückschreckte, seine Artgenossen zu fressen. Er hatte sich in die Katakomben zurückgezogen und ernährte sich von denen, die dumm genug waren, seine Hilfe zu suchen. Denn auch wenn er gefürchtet war, kannte der Mantichor doch Geheimnisse, die niemand sonst kannte.
Cale schauderte bei dem Gedanken, doch er ging weiter, hinunter in die Dunkelheit, mit Zoe auf seinen Armen. Trotz der Finsternis konnte er sich gut orientieren und er folgte wahllos Abzweigungen, Gängen und offenen Kellertüren.
› Geh schneller – die Zeit läuft dir davon. Sie wird immer schwächer.‹
»Wird er uns finden?«
»Ich muss euch nicht finden«, drang eine Stimme aus der Dunkelheit. Sie war rau, wie zerkratztes Plastik, und in ihr lag etwas Totes. »Köstliche Dummheit, köstliches Fleisch. Willkommen in meinem Heim.«
Zoe bäumte sich auf. Sie glaubte, bei lebendigem Leib zu verbrennen, aber sie weigerte sich, zu schreien. Der Engel stand neben ihr und betrachtete sie mitleidig, während Flammen über Zoes Körper tanzten. »Beende es schnell«, sagte er sanft. »Du musst nicht so leiden.«
»Wer … wer sagt mir, dass du wirklich die Macht hast, mich hier herauszuholen?«, fragte Zoe. Die Hitze wurde nicht schwächer und ihr Schmerz nicht weniger, aber tatsächlich trat so etwas wie eine Gewöhnung ein. Zoe lernte rasch, wie sie atmen musste, um das Leiden auszuhalten und um sprechen zu können. »Du bist ein Engel, noch so ein verdammter Engel, der mein Leben zur Hölle macht.« Sie lachte bitter auf. »Im wahrsten Sinne des Wortes, nicht wahr? Was soll ich euch noch glauben? Ihr seid das Schlimmste, was uns Menschen passieren kann. Wir können euch nicht vertrauen.«
Uriel beugte sich über sie und berührte ihre Stirn. Der Schmerz verschwand mit einem Schlag völlig. »Wir sind Seine Boten und die letzte Hoffnung, die zwischen euch und der Verdammnis steht. Und auch wenn Er nicht mehr zu uns spricht, so bedeutet es dennoch, dass wir über euch stehen. Über euch und über jeder anderen Kreatur, die nach uns erschaffen wurde.«
Die Worte waren überheblich, aber es lag kein Stolz in Uriels Stimme. Im Gegenteil, er wirkte angewidert, ganz so, als erklärte er ihr Fakten, die er selbst am liebsten vergessen würde. »Mein Wort gilt – sag mir, wo ich sie finde, und ich werde dich erlösen. Denn ich habe die Macht dazu.«
Zoe grübelte noch immer darüber nach, was der Erzengel von ihr wollte, als ihr klar wurde, was seine Worte genau besagten. Sie runzelte die Stirn, und Uriel sah das als Zeichen, seine Finger von ihrer Stirn zu nehmen. Flammen, Hitze und Schmerz kehrten zurück, und Zoe presste die Kiefer aufeinander. »Ein Erzengel kann nicht zwischen Himmel und Hölle stehen«, gab sie zwischen zusammengebissenen Zähnen von sich, die Lider fest geschlossen.
»Ein Liebender kann es«, flüsterte Uriel.
Die Welt wurde zu einem Meer aus Feuer, und diesmal schrie Zoe laut auf.
Caes hatte in seinem Leben als Dämon schon mehr Scheußlichkeiten gesehen, als ihm lieb war. Anders als viele der jungen Inkubi und Sukkubi war Caes nicht in dieser Form und auch nicht in der Hölle erschaffen worden. Früher, zu einer Zeit, als es noch keine Hölle gegeben hatte, war er Teil der himmlischen Chöre gewesen. Ein Bote unter den anderen und Vertrauter des ersten Engels – Luzifer. Sie war schön wie der Morgen und brachte jedem neuen Tag das erste Licht. Viele waren von ihrem Glanz geblendet, viele hatten sie geliebt. Und sie war voller Treue zu ihrem Vater gewesen und hatte immer getan, was in seinem Interesse lag. Bis er begann, die Menschen zu erschaffen. Caes erinnerte sich daran, wie begeistert die schöne Luzifer von diesen Wesen gewesen war, wie stolz sie auf ihren Vater und seine Schöpfung war. So stolz, dass sie ihn bat, auch eigene Kreaturen erschaffen zu können. Und er ließ sie.
Die Erschaffung des Menschen hatte zuvor schon für Unmut bei anderen Engeln gesorgt. Dumariel war einer der Ersten, der die neuen Wesen mit Unmut sah, und er war es
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