Die Schattenträumerin
gelesen«, schaltete sich Fredericks Vater ein. »Nach eineinhalb Jahren ist die Pest weitergezogen, fast ein Drittel der Bevölkerung ist ihr zum Opfer gefallen. Viele meinten damals, der Zorn Gottes habe die Stadt heimgesucht.«
»Kannst du noch eine Geschichte deiner Großmutter erzählen?«, bettelte Frederick aufgeregt.
Francesca dachte einen Moment lang nach. »Hast du schon einmal etwas von der Toteninsel gehört?«, fragte sie schließlich.
Frederick schüttelte den Kopf, den Mund voller Erwartung geöffnet.
»San Michele ist eine Insel, die nur mit dem Boot erreicht werden kann, doch es ist eine Insel der Toten. Denn dort findet man Tausende Gräber, Familiengrüfte und schaurige Statuen. Bevor die Friedhofsinsel gegründet wurde, begrub man die Toten mitten in Venedig. Meine Großmutter hat mir erzählt, dass jedes Mal, wenn es Hochwasser gab, die Leichen und Skelette nach oben geschwemmt wurden und durch die Gassen Venedigs trieben. Doch sie meinte, dass die Toten auch auf San Michele keinen Frieden finden können«, erzählte Francesca und senkte ihre Stimme geheimnisvoll. »Ein Totengräber, der dort arbeitet, hat ihr nämlich anvertraut, dass die Leichen in ihren Gräbern nicht verwesen. Selbst nach Jahrzehnten sehen sie immer noch so lebendig aus, als wären sie eben erst in den Sarg gelegt worden. Man nimmt an, dass es an der außergewöhnlichen Lagunenluft liegt. Aber der Totengräber hat meiner Großmutter den wahren Grund erzählt.« Francesca machte eine kurze Pause und ihre drei Zuhörer hielten gespannt die Luft an.
»San Michele gehörte einst einer Gruppe von Mönchen. Sie wurden jedoch aus ihrem Kloster und von der Insel vertrieben, da Venedig dort den Friedhof erbauen wollte. Ein alter Mönch war darüber so erzürnt, dass er einen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist. Bevor der Mönch dem Teufel seine Seele übergab, wünschte er sich, dass die Toten auf dieser Insel niemals Frieden finden sollen. Deswegen bleiben die Leichen dort so gut erhalten – weil der Teufel ihre Seelen nicht ins Jenseits ziehen lässt.«
»Abgefahren!«, hauchte Frederick fasziniert.
»Wenn es dich interessiert, solltet ihr der Insel einen Besuchabstatten«, schlug Francesca vor. »Besonders morgens, wenn der Nebel durch die Grabsteine und Engelsstatuen streicht, fällt es nicht schwer, an die Geschichte der ruhelosen Seelen zu glauben.«
Frederick sah sofort fragend zu seiner Mutter, die lächelnd die Schultern hob. »Mal sehen, vielleicht finden wir die Zeit dafür.« Sie wandte sich an Francesca. »Schade, dass wir nicht schon früher ins Gespräch gekommen sind! Du hättest Frederick sicherlich noch einige Geschichten erzählen können, die seinen Venedigaufenthalt etwas spannender gemacht hätten.«
Francesca sah auf. Wie aufs Stichwort war der Zug langsamer geworden – sie hatten den Bahnhof Santa Lucia fast erreicht.
Francesca öffnete den Rucksack zu ihren Füßen, stopfte ihr Buch hinein und strich sich eine ihrer langen Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Tizianrot!«, rief Frau Kessler plötzlich aus und klatschte begeistert in die Hände. »Endlich ist es mir eingefallen: Es ist tizianrot.«
Francesca sah sie verständnislos an. »Wie bitte?«
»Deine Haarfarbe! Seit wir zu dir ins Abteil gestiegen sind, habe ich überlegt, an welche außergewöhnliche Farbe mich deine Haare erinnern. Es ist tizianrot! Die Farbe, die der venezianische Maler Tizian den Frauen auf seinen Gemälden oft gegeben hat.«
»Mhm«, gab Francesca wortkarg zurück. Ihre Haarfarbe war ein Thema, auf das sie sehr empfindlich reagieren konnte. Man war gut damit beraten, die Farbe Rot in ihrerGegenwart gar nicht erst zu erwähnen. Im Laufe der Jahre hatte sich Francesca deswegen schon zu viele Sticheleien gefallen lassen müssen.
»Dazu noch deine blaugrünen Augen, die Farbe des Lagunenwassers!«, schwärmte Frau Kessler weiter. »Tizian hätte dich sicherlich mit Freuden gemalt. Du bist eine echte venezianische Schönheit!«
Francesca spürte, wie sich ihre Wangen rot färbten. Ein Umstand, den sie noch weit weniger mochte, als über ihre Haarfarbe zu sprechen. Wahrscheinlich, dachte sie bitter, sieht mein Kopf gerade aus wie eine übergroße Kirsche mit Locken!
Sie war noch nie als Schönheit bezeichnet worden und am allerwenigsten hätte sie selbst den Ausdruck für sich verwendet. Dafür fand sie sich viel zu schlaksig und blass. Sie hätte alles für die hellbraunen Augen und schwarzen Haare ihrer Mutter
Weitere Kostenlose Bücher