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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Wilk
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gegeben.
    »Ich bin keine Venezianerin«, murmelte sie verlegen. »Mein Zuhause ist in Deutschland.«
    Ihre Worte wurden vom Quietschen der Bremsen übertönt. Der Zug kam ruckelnd zum Stehen und alle im Abteil erhoben sich.
    »Du musst meine Frau entschuldigen«, sagte Herr Kessler, der ihr Unbehagen zu bemerken schien. Er streckte sich und half Francesca, ihren Koffer aus der Ablage zu ziehen. »Sie ist ein großer Kunstfan und hat das Auge einer Malerin. Deswegen habe ich ihr zu Weihnachten auch diese Reise geschenkt. Wir wollen uns alle bedeutenden Kunstwerke Venedigs anschauen.«
    Aus den Augenwinkeln sah Francesca, wie Frederick genervt mit den Augen rollte, während er sich seine Jacke überstreifte. Sie konnte sich ein verständnisvolles Grinsen nicht verkneifen. Ihr wäre es an seiner Stelle nicht anders ergangen! Während der Weihnachtsferien einen Bildungsurlaub in Venedig verbringen zu müssen, war für kein Kind eine verlockende Vorstellung. Obwohl Francesca nun schon so oft in Venedig gewesen war, hatte sie ihre Sommerferien lieber mit spannenderen Dingen verbracht. Wie zum Beispiel mit ihrer Cousine Gianna am Lido am Strand zu liegen oder sich auf der Rialto-Brücke mit Stock, Schnur und einem Widerhaken bewaffnet beim Sonnenbrillenangeln zu versuchen – denn nichts fiel den Touristen so oft vom Kopf wie ihre Sonnenbrillen, wenn sie sich über die Brüstung beugten. Auch hatten die beiden Mädchen schon gemeinsam ein Floß gebaut, um damit wie die Erwachsenen in ihren Booten die Kanäle Venedigs zu durchkreuzen. Damals hatte Francesca ihr erstes und letztes Bad in einem Kanal genommen, denn das Floß wurde schon nach wenigen Minuten vom Wasser verschluckt und versank in der Tiefe. Oder sie schrieben ihr größtes Geheimnis auf einen Zettel und versuchten, eine Flaschenpost von einem Kanalende zum nächsten zu verschicken. Aber tatsächlich war sie in all den Jahren noch nie freiwillig in eines der Museen gegangen.
    Auch Frau Kessler schien das gequälte Gesicht ihres Sohnes nicht entgangen zu sein. »Wir haben viel zu tun und sollten uns auf keinen Fall durch die Gerüchte über den drohenden Untergang Venedigs ablenken lassen.« Sie zwinkerte Francesca verschwörerisch zu.
    Frederick sog scharf die Luft ein. »Die Stadt geht unter?«
    Soweit Francesca wusste, war Venedig in den letzten hundert Jahren nicht mehr als dreiundzwanzig Zentimeter abgesunken. Man konnte somit nicht unbedingt von einer akuten Gefahr sprechen. Trotzdem ahnte sie, worauf Fredericks Mutter hinauswollte.
    »Ganz richtig«, stimmte sie deswegen Frau Kessler zu. »Bei einer Stadt, die mitten im Wasser auf Millionen von Baumstämmen erbaut worden ist, ist diese Gefahr tagtäglich gegeben.«
    Wie erwartet blitzte in Fredricks braunen Augen eine Mischung aus Spannung, Abenteuerlust und einer kleinen Prise Furcht auf.
    »Und wenn Venedig untergeht, während wir hier sind?«
    Francesca öffnete den Mund, doch sie brachte plötzlich kein Wort mehr über die Lippen.
    Sie wusste nicht, warum, aber bei Fredericks Frage hatte sie ein kalter Schauer ergriffen – so unvermittelt, als habe sie etwas Dunkles und Eiskaltes gestreift.
    Jäh tauchten erschreckende Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Von Booten und Gondeln, die von Wassermassen verschluckt werden und von prunkvollen Palazzi, die im aufgewühlten Meer versinken. Sie schüttelte den Kopf in der Hoffnung, damit die Schreckensbilder vertreiben zu können.
    Es ist doch alles nur eine dumme Flunkerei, schalt sie sich selbst, um für einen kleinen Jungen einen Bildungsurlaub interessanter zu machen. Es war wirklich lächerlich, wenn sie nun anfing, selbst daran zu glauben!
    Fredericks Mutter tätschelte ihrem Sohn die Schulter. »Du solltest auf jede kleinste Erschütterung zu deinen Füßen achten und auch immer wissen, wo das nächste Boot liegt, auf das man sich flüchten könnte – dann kann uns nichts geschehen!«, riet sie ihm lächelnd.
    Er nickte so eifrig, dass seine Haare noch eine Spur zerzauster aussahen. »Das mache ich, versprochen!«
    Francesca zwang sich zu einem Lächeln. Doch als sie aus dem Zug auf den Bahnsteig trat, kroch das Gefühl einer nahenden Bedrohung ihr wie mit kalten Fingern den Rücken hinunter.
    Francesca trat aus dem Bahnhofsgebäude und sog genüsslich die salzige Lagunenluft ein. Aus dem Stand eines Händlers tönten die Klänge eines italienischen Weihnachtsliedes über den Platz. »Tu scendi dalle stelle, o Re del Cielo, e vieni in una grotta al

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