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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Wilk
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während sie schlief, mit einer Stinkbombe, dann hätte sie es wenigstens hinter sich.
    »Gab es Probleme? Ist jemand gekommen?«, fragte Luca seinen Bruder.
    »Nein!«, rülpste Matteo. Er schien seinen Weltrekordversuch tatsächlich konsequent durchzuziehen.
    Luca verschränkte die Arme vor der Brust und sah Francesca herausfordernd an. »Los, zieh die Schwimmweste an!«
    »Aber Matteo und Gianna haben doch auch keine Schwimmwesten an.«
    »Ich fahre nicht los, ehe du sie angezogen hast. Schließlich bist du keine Venezianerin und an das Fahren auf dem Wasser nicht so gewohnt wie wir. Ich bin nur auf deine Sicherheit bedacht, liebste Cousine.«
    Francesca sah zu Gianna, die hilflos die Schultern in die Höhe zog. »Er bringt es fertig, dass wir bis heute Abend hier herumstehen.«
    »Na schön!«, presste Francesca hervor. Fluchend zog siesich die orangefarbene Weste an, die zu allem Überfluss auch noch feucht war.
    Mit einem zufriedenen Lächeln wandte sich Luca ab und fädelte den vollbeladenen Kahn in den Verkehr des Canal Grande ein. Sobald sie an Fahrt gewonnen hatten, stach der Wind Francesca wie mit kleinen Nadeln ins Gesicht und ihre Ohren wurden so kalt, dass sie schmerzten. Die Luft war kristallklar, sodass sich die prunkvollen Palazzi im Wasser spiegelten, als gäbe es dort unten ein zweites, ihnen unbekanntes Venedig. Doch ihr Boot zerteilte die Spiegelbilder ohne Erbarmen, die kunstvollen Traumgebäude zerfielen und wurden von den Wellen davongetragen. Nachdenklich sah ihnen Francesca hinterher. Dieses Venedig war so anders. Ohne den strahlenden Sonnenschein des Sommers wirkten die Palazzi grau und abweisend. Nur einige weihnachtliche Lichterketten, die an manchen Balkonen angebracht waren, zauberten etwas Farbe in die Stadt. Selbst die Stimmen Venedigs klangen gedämpft, das Rufen, Lachen und Murmeln, das die Stadt im Sommer erfüllte, war zu einem kaum hörbaren Wispern und Flüstern geworden.
    Sie verließen den Canal Grande und bogen in einen Seitenkanal ein. Luca drosselte das Tempo und lenkte den Kahn geschickt zwischen den angelegten Boote herum.
    »Wisst ihr, warum mich Nonna Fiorella unbedingt sehen wollte?«, unterbrach Francesca die Stille. »Es klang so, als ob das, was sie mit mir bereden möchte, ungeheuer wichtig sei.«
    »Du bist wegen Nonna hergekommen?«, fragte Giannaverblüfft. Sie drückte den Mörtelsack, der zwischen ihnen stand, hinunter und sah Francesca erstaunt an. »Sie hat uns nur erzählt, dass deine Mutter keinen Urlaub bekommen hat und du uns deswegen über die Weihnachtsferien besuchen wirst.«
    »Das stimmt zwar, allerdings wäre ich nicht extra hergekommen, wenn Nonna nicht darauf bestanden hätte.«
    »Seltsam. Uns gegenüber hat sie kein Wort davon erwähnt. Oder, Matteo?«
    Er winkelte die Arme an, zog die Schultern in die Höhe und zeigte mit den Handflächen in Richtung Himmel. Dies sollte wohl bedeuten, dass er keine Ahnung hatte.
    Gianna winkte ab. »Ich wette mit dir, dass Nonna nur wieder eine ihrer Visionen hatte!«
    Matteo nickte eifrig, anscheinend war er Giannas Meinung. Fiorellas Visionen waren in ganz Venedig legendär, besonders ihre Todesvoraussagen. Die meisten Menschen erfreuten sich jedoch immer noch bester Gesundheit, obwohl Fiorella ihnen einen baldigen – und meist schrecklichen – Tod vorausgesagt hatte. Darauf angesprochen meinte Fiorella jedoch immer, die Zeit würde ihr schlussendlich recht geben.
    Francesca atmete erleichtert auf. Ihre größte Sorge, dass ihre Großmutter krank geworden sei, war anscheinend unbegründet.
    Gianna richtete sich alarmiert auf. »Luca, du musst nach links ausweichen, eine Gondel kommt uns entgegen!«, warnte sie ihren Cousin. »Sei bloß vorsichtig!«
    Der Gondoliere stand stolz aufgerichtet am Heck der Gondel,seine frischverliebten Passagiere saßen zusammengekuschelt auf der rot gepolsterten Mittelbank unter einer schwarzen Felldecke und schienen an den Lippen aneinander festgefroren zu sein.
    »Ich habe sie längst gesehen«, gab Luca genervt zurück. »Außerdem lenke ich nicht zum ersten Mal ein Boot. Papa hat mich schon damit fahren lassen, als du noch in die Windeln gemacht hast.«
    Das stimmte zwar, trotzdem besaß Luca mit seinen sechzehn Jahren offiziell noch keinen Bootsführerschein. Was, solange er keinen Unfall verursachte oder zu schnell durch die Kanäle düste, im Grunde niemanden interessierte. Es gehörte jedoch in Venedig zu den ungeschriebenen Regeln, dass man eine entgegenkommende

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