Die Schattenträumerin
Gondel immer auf der rechten Seite passieren ließ, was sogar ein Rüpel wie Luca beherzigte.
Sie bogen in den Canale del nebbione, den Kanal des dichten Nebels, ab. Zum ersten Mal sah Francesca mit eigenen Augen, warum der Kanal diesen Namen trug. Bisher hatte sie nur aus Erzählungen gehört, dass im Winter über dem dunklen Wasser stets eine graue Nebelschicht lag. Wie eine schwere Decke hing er über dem Kanal, formte sich stellenweise zu kleinen Säulen, die mit gierigen Fingern nach den Häusern und Booten tasteten. Einige Meter weiter vorne gabelte sich der Kanal. Genau dazwischen ragte gleich einem großen, steinernen Schiff der Palazzo der Medicis auf, der nur mit einer geländerlosen Brücke mit den schlichten Häusern auf seiner rechten Seite verbunden war. Wie eine kleinere Ausgabe der prächtigen Palazzi am Canal Grande warer mit Säulen, gotischen Fenstern und dämonischen Wasserspeiern geschmückt. Am auffälligsten jedoch war seine Kalksteinfassade, die im Laufe der Jahrhunderte eine schwärzliche Färbung angenommen hatte und die dem Palazzo seinen Namen gab: Ca’nera. Der schwarze Palast.
Wie jedes Mal erschauderte Francesca bei seinem Anblick und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Wieder einmal war sie angekommen. Am Ort ihrer schlimmsten Albträume.
Als Francesca den Palazzo betrat, wurde sie von lautem Hämmern und Klopfen empfangen.
»Mein Papa und Onkel Emilio konnten Nonna davon überzeugen, den Palazzo zu einer Pension umzubauen«, erklärte Gianna den Geräuschpegel, als sie die steile Steintreppe emporstiegen. »Gerade bauen sie im ersten Stock einige Räume zu Gästezimmern um. Deswegen mussten Luca, Matteo und ich auch den Mörtel und all die anderen Sachen besorgen.«
Francesca verzog das Gesicht. Die Vorstellung, in Zukunft gemeinsam mit Fremden im Palazzo zu leben, behagte ihr ganz und gar nicht. Sie war froh gewesen, dass sich ihre Großmutter als Familienoberhaupt jahrelang gegen diese Idee gewehrt hatte. Doch wahrscheinlich musste sie sich nun dem finanziellen Druck beugen. Der Unterhalt des Palazzos war kostspielig und das Restaurant, das Fiorellas Töchter Stella und Viola gemeinsam mit ihren Ehemännern in der Nähe der Rialto-Brücke führten, warf gerade so viel ab, um die beiden Familien zu ernähren.
»Sie haben einen kleinen Kredit für den Umbau bewilligt bekommen, aber die meisten Arbeiten müssen Papa und Onkel Emilio selbst übernehmen. Das permanente Hämmern und Sägen verbreitet wirklich eine ungeheuer weihnachtliche Stimmung«, bemerkte Gianna in sarkastischem Ton.
Sie liefen durch den düsteren Flur im zweiten Stock, an dessen Ende das Zimmer der Mädchen lag. Natürlich hätte Francesca bei der Größe des Palazzos ein Zimmer für sich alleine haben können, doch die beiden Mädchen wollten jede Minute gemeinsam verbringen.
Als Gianna die Tür aufstieß, blendete Francesca nach der Dunkelheit des Flurs im ersten Moment das Licht. Ihr Bett stand wie immer direkt neben dem Fenster und auf dem bunt geblümten Kopfkissen hatte es sich gerade Giannas Kater Cosimo gemütlich gemacht. Unwillig blinzelte er die beiden Störenfriede an, ehe er sich mit einem Seufzer wieder schlafen legte. Mit dem Marmorfußboden und den weiß getünchten Wänden hätte das Zimmer kalt gewirkt, wenn Gianna es nicht mit ihren selbst gemalten Bildern verschönert hätte. Die zarten Aquarelltöne ihrer Kunstwerke zauberten Farbe in den Raum und zeugten von der Liebe Giannas zu ihrer Heimatstadt. Denn ihre Bilder, so unterschiedlich sie auch sein mochten, zeigten doch nur Variationen eines einzigen Motivs: Venedig. An der linken Wand über dem Schreibtisch hing ein kleines Regal, das Giannas Vater für sie gezimmert hatte und auf dem ihre gemeinsamen Schätze lagerten: die in unzähligen Sommern zusammen erfischten Sonnenbrillen.
Francesca blieb vor einem Bild direkt über ihrem Bett stehen. »Ist das neu?«
»Gefällt es dir?« Nervös blinzelte Gianna sie an. »Als wir uns bei deinem letzten Besuch den Sonnenaufgang am Markusplatz angesehen haben, hattest du deinen Fotoapparat vergessen. Da dachte ich, ich male es für dich.«
Francesca warf ihr ein dankbares Lächeln zu. »Das Bild ist toll! Ich wünschte, ich könnte so gut zeichnen wie du.«
Giannas Augen leuchteten vor Freude auf und ihre Wangen röteten sich.
Francesca wandte sich wieder dem Bild zu, auf dem die beiden Granitsäulen des Markusplatzes in blutrotes Licht getaucht waren. »Nur schade, dass wir das
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