Die Schattenträumerin
eine atemlose Stimme rufen: »Francesca, dem Himmel sei Dank, du bist noch da!«
Die Nase vor Kälte gerötet und die fast hüftlangen braunen Haare wie einen Schleier um die Schultern gelegt, kam Gianna in hinkendem Schritt auf sie zu. Fast hätte Francesca ihre Cousine nicht wiedererkannt. Ihr fein geschnittenes Gesicht lag unter einer roten Strickmütze verborgen und den Schal hatte sie sich mehrmals um den Hals gewickelt.
Gianna warf Luca einen wütenden Blick zu. »Hast du Francesca etwa schon geärgert? Sie ist doch gerade erst angekommen! Du und dein kleiner Bruder, ihr seid solche fiesen, gemeinen …«
»Pass auf, was du sagst«, unterbrach er sie und hob warnend seinen Zeigefinger. »Du weißt, dass du alle Gemeinheiten doppelt und dreifach zurückbekommst, Hinkebein!«
Gianna hielt inne und schluckte schwer.
Jedes Mal, wenn Luca seine Cousine mit diesem Schimpfwort bedachte, hätte Francesca vor Wut platzen können. Gianna hatte von Geburt an eine Fehlstellung der Hüfte und dadurch eine leichte Gehbehinderung. Francesca versicherte ihr immer wieder, dass man das Hinken kaum bemerkte, doch für Gianna war es ein unübersehbarer Makel, für den sie sich zutiefst schämte.
Francesca betrachtete Luca mit zusammengekniffenen Lippen.
»Hör einfach nicht auf ihn!«, versuchte sie ihre Cousine aufzumuntern. »Komm, lass uns gehen, ich bin schon halb erfroren.« Sie hakte sich bei Gianna unter und manövrierte die Rollen ihres Koffers geschickt über Lucas linken Fuß, der mit schmerzverzerrtem Gesicht aufjaulte.
Schlagartig hellte sich Giannas Miene auf und der Schatten, der sich eben noch über ihre schokoladenbraunen Augen gelegt hatte, war verschwunden. »Was hast du denn da drin? Backsteine?«, kicherte sie.
Francesca räusperte sich verschämt. »Etwas in der Art.«
Sie blickte über ihre Schulter und mit einer Mischung aus Schadenfreude und Besorgnis sah sie, wie Luca immer noch auf einem Bein herumhüpfte. Francesca musste ihn mit dem Koffer ganz schön erwischt haben und sie kannte Luca gut genug, um zu wissen, dass er dies nicht einfach auf sich sitzen lassen würde.
Sie liefen einige Meter, bis sie zu einem Anlegeplatz kamen, vor dem ein Schild mit den Worten »Privato, Fausto Gagliardi« wissen ließ, dass der altersschwache Lastkahn der Medicis hier eindeutig nicht hingehörte. Zwischen allerleiBrettern und Baumaterialien eingequetscht saß ihr Cousin Matteo und starrte gelangweilt in die Runde. Er war der jüngste der vier Medici-Enkel und für seine zehn Jahre relativ klein, was er anscheinend durch seine Körperfülle auszugleichen versuchte. An seinen runden Pausbäckchen sah man deutlich, dass er das Essen seiner Mutter Viola über alles liebte.
»Hi!«, begrüßte er sie mit einem lauten Rülpser.
Francesca verzog angewidert ihr Gesicht.
»Was soll das denn?«, fragte sie irritiert. Zwar half Matteo seinem Bruder oft genug bei dessen gemeinen Streichen, trotzdem hatte Francesca ihren kleinen Cousin mit seiner tollpatschigen Art immer gemocht und wenn Luca nicht in seiner Nähe war, konnte er sogar richtig nett sein.
»Nimm es nicht persönlich! Matteo hat vor einigen Tagen sein großes und wohl einziges Talent entdeckt«, erklärte Gianna. »Auf Kommando aufzustoßen! Jetzt will er einen Weltrekord aufstellen: Alles, was er von sich gibt, untermalt er mit einem Rülpser.«
Francesca sah ihren Cousin fassungslos an. »Matteo, das ist echt eklig!«
»Es hat auch seine Vorteile«, räumte Gianna ein. »Seit er seinen Weltrekordversuch begonnen hat, sagt er so gut wie nichts mehr und wenn, ist es relativ kurz.«
Matteo nickte und grinste Francesca wortlos an. Sie schüttelte lachend den Kopf. »Total bekloppt!«
Gianna deutete auf die vielen Bauutensilien. »Wir mussten bei einem Freund meines Vaters dieses ganze Zeug abholen! Deswegen sind wir auch zu spät gekommen.«
»Wozu braucht ihr denn das alles?«
Gianna seufzte gequält auf. »Das erzähle ich dir später«, winkte sie ab. »Jetzt steig erst mal ein!«
Francesca verstaute ihren Koffer und gerade als sie sich zwischen zwei Mörtelsäcke zwängen wollte, sprang Luca zu ihnen in den Kahn. Er packte sie unsanft am Arm. »Das wirst du noch bereuen, Hexe!«, raunte er ihr zu.
Francesca stöhnte innerlich auf. Genau das hatte sie befürchtet! Jetzt würde sie den Rest ihres Aufenthalts damit verbringen müssen, ihren Kleiderschrank nach Juckpulver zu durchsuchen. Wenn sie Glück hatte, bewarf er sie gleich heute Nacht,
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