Die Schattenträumerin
freddo e al gelo … «
Wie jedes Mal fiel Francescas Blick zuerst auf die große, türkisfarbene Kuppel der Kirche San Simeon Piccolo und das emsige Treiben auf dem Canal Grande. Aus dieser Perspektive hätte man Venedigs größten Kanal auch für einen Fluss halten können, an den die Menschen ihre Häuser so nahe gesetzt hatten, dass das Ufer verschwunden war. Doch auf keinem Fluss hatte Francesca je so ein buntes Durcheinander an Booten, Gondeln und Transportschiffen gesehen. Kreuz und quer, scheinbar ohne jede Ordnung, fuhren die Boote durch die Kanäle, die in dieser Stadt die Autos und Straßen ersetzten. Die Luft war erfüllt vom Tuckern der Motoren, dem unrhythmischen Schlag der Wellen und denWarnungen und Verwünschungen, die sich die Bootsführer gegenseitig zuriefen.
Eine frische Brise, die vom Canal Grande zu ihr herüberwehte, ließ Francesca erschaudern. Sie zog den Verschluss ihrer Jacke so weit nach oben, wie es ging, und vergrub ihre Hände in ihren Taschen. Eigentlich hatte sie gehofft, dass es in Venedig wärmer als in Deutschland wäre, doch auch hier hatten sich die Menschen in Schals, Mützen und dicke Winterjacken gehüllt. Der Händler, der an seinem Stand Plastikgondeln, bunte bemalte Masken oder Briefbeschwerer in Form geflügelter Löwen feilbot, rieb fröstelnd seine Hände aneinander, während er auf Kundschaft wartete.
Francesca sah sich suchend um. Familie Kessler überquerte gerade den Vorplatz des Bahnhofs und winkte ihr ein letztes Mal zu. Francesca hatte ihnen eben noch den schnellsten Weg zu ihrem Hotel erklärt und dankbar hatte sich die Familie von ihr verabschiedet. Der Vorplatz, der im Sommer von Reisenden nur so wimmelte, lag heute wie ausgestorben vor ihr. Nur vereinzelt standen Menschen mit Koffern und Stadtplänen in der Hand herum, während einige Venezianer den Touristen in einem geübten Zickzackkurs auswichen.
Francesca runzelte die Stirn. Wo war nur Gianna? Am Telefon hatte ihre Cousine noch darauf bestanden, sie persönlich vom Bahnhof abzuholen, doch nun konnte Francesca sie nirgendwo entdecken.
Unschlüssig blieb sie einige Minuten stehen, ehe sie sich dazu entschied, mit dem Vaporetto zum Palast der Medicis zu fahren. Wenn Gianna und sie sich verpasst haben sollten,würde ihre Cousine wahrscheinlich dort auf sie warten. Gerade tauchte von rechts eines der Linienschiffe auf, das auf festgelegten Routen über den Canal Grande fuhr. Francesca schnappte sich ihren Koffer und steuerte zielstrebig auf den Ticketschalter der Haltestelle zu. Wenn sie sich beeilte, konnte sie es noch rechtzeitig auf das Schiff schaffen.
Sie war so sehr darauf konzentriert, in ihrer Hosentasche nach Kleingeld zu angeln, dass sie erst zu spät bemerkte, wie ein Jugendlicher mit schwarzen fettigen Haaren und verbeulten Turnschuhen auf sie zusteuerte. Gerade als sie mit glücklichem Lächeln einige Münzen hervorgezogen hatte, rempelte er sie so rabiat an, dass sie nach vorne stolperte und fast das Gleichgewicht verloren hätte.
»Hey!« Verärgert drehte sich Francesca um.
Als sie den Jungen erblickte, spannten sich ihre Schultern an und ihre Augen verengten sich.
»Du warst das!«, stieß sie zähneknirschend aus. »Das hätte ich mir ja denken können!«
Er hatte sein pickliges Gesicht zu einer grinsenden Fratze verzogen. »Buongiorno, Hexe.«
Es gab nur einen, der sie mit diesem Spitznamen bedachte – ihr Cousin Luca. Er wusste genau, wie sehr sie es hasste, mit ihrer Haarfarbe aufgezogen zu werden. Luca war drei Jahre älter als Francesca und hatte schon als kleiner Junge keine Gelegenheit ausgelassen, sie zu ärgern. Sie konnte sich noch allzu gut daran erinnern, wie er damals ihrem Teddybären den Kopf abgeschnitten und ihr erzählt hatte, dass er nun als kopfloser Teddygeist nachts durch den Palazzo wandeln und rothaarige Mädchen fressen würde.In der darauffolgenden Nacht hatte Francesca kein Auge zugemacht und ängstlich auf jedes noch so kleine Geräusch gehört. Erst als ihre Großmutter sie davon überzeugt hatte, dass Lucas Geschichte völliger Unsinn sei, weil kopflose Teddygeister schließlich keinen Mund hätten und somit auch niemanden fressen konnten, hatte Francesca einschlafen können.
»Habe ich dir wehgetan?«, fragte Luca nun in gespieltem Bedauern. »Tut mir leid, da ist die Wiedersehensfreude wohl mit mir durchgegangen.«
Während sie noch überlegte, ob sie Luca zuerst beschimpfen oder ihm lieber gleich kräftig auf den Fuß treten sollte, hörte sie
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