Die Schattenträumerin
und über alle Vorgänge im Restaurant herrschte, hatte befohlen, dass Francesca heute Baldini beliefern sollte – schließlich gäbe es für Stella im Restaurant genug Arbeit. Ihre Großmutter hatte Francesca mehrmals daran erinnert, dass sie dem Antiquar gegenüber höflich sein und sich mit Namen vorstellen musste. Er sollte wohl wissen, dass ihn trotz der vielen Arbeit ein Familienmitglied belieferte. Anscheinend lag Fiorella viel daran, dass Baldini eine gute Meinung von ihnen hatte.
Francesca bog um eine Ecke und tauchte in die Dunkelheit einer schmalen Gasse ein. Sie kannte sich in diesem Stadtteil nicht besonders gut aus und selbst gebürtige Venezianer verirrten sich hin und wieder im Labyrinth der Gassen.
Zu allem Überfluss begann es nun auch noch zu nieseln. Die Regenwolken über Venedig waren von solch einem dunklen Grau, dass das Licht des Tages fast vollständig von ihnen verschluckt wurde. Die Stadt wirkte wie ausgestorben. Wer nicht unbedingt nach draußen musste, machte es sich an Tagen wie diesen lieber zu Hause gemütlich.
»Verflixt!« Francesca verzog verärgert den Mund. Nun war sie schon wieder auf dem Campo San Polo gelandet. Im Sommer war sie hier oft mit Gianna, da auf dem Campo in den warmen Sommermonaten ein Open-Air-Kino aufgestellt wurde. Heute bedeutete dies jedoch, dass sie sich noch weiter von ihrem Ziel entfernt hatte. Über die Calle Bernardo tauchte sie wieder in das Gewirr der kleinen Gässchen ein. Hier zweigten die Wege abrupt mal nach rechts, mal nachlinks ab, sodass man zwischen den Häuserschluchten schon nach kürzester Zeit die Orientierung verlor.
Auf gut Glück folgte Francesca einer Gasse, die so schmal war, dass sie fast mit ihrer Transportbox stecken geblieben wäre … und landete prompt auf einem Campo, der so klein war, dass er eher einem Innenhof glich.
»Na großartig, eine Sackgasse!«, stöhnte sie auf.
Sie hatte sich vollkommen verlaufen und keine Ahnung mehr, wo sie war. Francesca sah sich um. Die Häuser, die den Platz umschlossen, machten allesamt einen verfallenen, ungastlichen Eindruck. Hier schien seit langer Zeit niemand mehr zu wohnen. Francesca fröstelte. Diese menschenleeren Campi weckten in ihr schon immer ein beklemmendes Gefühl. Sie kam sich vor wie auf der Bühne eines leeren Theaters, in dem es keine Zuschauer gab und sie der einzige Akteur war. Der Putz an den Häusern war zu großen Teilen abgebröckelt, die Fenster waren verrammelt und in einer Ecke hatte jemand achtlos einige Müllsäcke entsorgt. Dem beißenden Gestank nach zu urteilen, lagen sie dort schon seit einiger Zeit herum. Unter den Säcken drang ein stetiges Rascheln und Fiepen hervor. Francesca erschauderte. Sie wusste, was dieses Geräusch zu bedeuten hatte. Ratten!
Inmitten des Campo stand ein kleiner Brunnen, dessen steinerne Umrandung größtenteils abgebröckelt war und in dessen Mitte sich eine mannshohe Statue befand, der sich Francesca nun fasziniert näherte.
Das steinerne Kunstwerk wirkte hier völlig fehl am Platz. Es war das Bildnis eines venezianischen Arztes mit einerlangen, spitz zulaufenden Pestmaske vor dem Gesicht. Der Statue haftete etwas seltsam Lebendiges an. Die steinernen Falten des Umhangs, die tiefe Kapuze und die scharfkantigen Schuhspitzen hatte der Bildhauer sorgfältig und detailgetreu ausgearbeitet. Nur bei den Fingern schien ihn sein künstlerisches Geschick verlassen zu haben – sie wirkten wie unförmige lange Krallen. Francesca schluckte schwer. Fast schien es ihr, als könnte sie aus dem Dunkel der Maske zwei schwarze kalte Augen schimmern sehen. Wer diese Statue hier aufgestellt hatte, musste einen seltsamen Geschmack haben …
Sie riss sich von ihrem Anblick los und rief sich in Erinnerung, dass sie endlich dieses Antiquariat finden musste. Ansonsten würde Baldinis Pasta noch eiskalt werden und zu dem Treffen mit ihrer Großmutter würde Francesca auch zu spät kommen! Sie ließ sich auf dem Rand des Brunnens nieder und öffnete den Deckel der Transportbox. Für Notfälle wie diesen hatte Stella an der Innenseite einen Stadtplan befestigt. Francesca beugte sich darüber und studierte die Karte.
»Hier ist der Campo San Polo, dort war ich gerade«, murmelte sie nachdenklich. »Wenn ich jetzt …«
Ruckartig richtete sich Francesca auf. Sie hatte einen Hauch in ihrem Nacken gespürt, so warm wie der Atem eines Menschen. Mit klopfendem Herzen drehte sie sich um.
Nichts.
Hinter ihr war nichts außer der Statue.
Seltsam. Sie
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