Die Schattenträumerin
kann ich immerhin darüber lästern, wie alt sie geworden ist, ohne dass sie mir eine Kopfnuss verpasst.«
»Francesca, wollen wir heute ins Kino gehen?«, wechselte Gianna das Thema. Ohne ihre Antwort abzuwarten, griff sie nach der Tageszeitung. »Ich schau mal kurz nach, was für Filme gezeigt werden.« Sie schlug die Zeitung auf, ließ sie aber sofort wieder sinken. »Wir könnten aber auch hierbleiben und uns gegenseitig die Haare flechten oder in den neuen Klamottenladen gehen, der kürzlich …«
»Gianna, hast du vergessen, dass du mir versprochen hast, nach Weihnachten im Restaurant auszuhelfen?«, erinnerte Stella sie mit sanfter Stimme. »Dein Vater und Emilio werden die nächsten Tage mit dem Umbau beschäftigt sein. Viola und ich brauchen jede helfende Hand im Restaurant.«
Gianna sank in sich zusammen. Es war ihr anzusehen, dass sie sich ihre Ferien anders vorgestellt hatte.
»Es trifft dich nicht alleine!«, versuchte ihre Mutter sie zu besänftigen. »Matteo hilft seiner Mutter schon seit heute Morgen in der Küche und Luca muss noch einige Dinge für den Umbau besorgen. So ist das eben in einer Familie, da muss jeder mithelfen.«
Francesca war der vorwurfsvolle Blick, den Gianna ihr reflexartig zugeworfen hatte, nicht entgangen. Stella hätte Francesca nie dazu gezwungen, in ihren Ferien im Restaurant zu arbeiten, was Gianna offensichtlich nicht ganz gerecht fand.
»Ich werde euch natürlich auch unterstützen«, beeilte sie sich zu versichern. »Heute Mittag bin ich zwar mit Nonna verabredet, aber vorher könnte ich die Essenslieferung für die Geschäftsleute übernehmen.«
Stella lächelte ihr dankbar zu. »Das ist lieb von dir!« Sie stand auf und klatschte in die Hände. »Avanti! Worauf wartet ihr noch? Packen wir es an und stürzen wir uns in die Arbeit! Lasst uns das Restaurant putzen, die Gläser polieren und die Gäste im Rekordtempo bedienen.«
Gianna sank noch tiefer in sich zusammen. »Dein übertriebener Arbeitseifer lässt mich ganz schlapp werden«, jammerte sie.
Francesca musste ihr recht geben. Bei Stellas Worten hatte sie sich schon am Ende eines langen Arbeitstages völlig erschöpft und mit Blasen an den Füßen ins Bett wanken sehen.
»Na schön, vielleicht motiviert euch ja der Gedanke, dass Viola euch gleich mit dem heutigen Tagesgericht abfüttern wird, ihren hausgemachten Gnocchi in cremiger Vierkäsesoße. Und als Nachtisch verabreicht sie euch sicherlich ihr selbst gemachtes Schokoladen-Tiramisu!«
Gianna und Francesca sprangen gleichzeitig auf. »Das hättest du uns doch gleich sagen können!«, beschwerte sich Francesca. »Ich dachte, wir hätten es eilig?«
Die beiden zogen sich schnell ihre Jacken über und schlüpften noch vor Stella aus dem Haus.
Das Antiquariat musste doch hier irgendwo sein! Francesca warf einen Blick auf das Straßenschild, das in zweieinhalbMeter Höhe angebracht war. Sotoportego Del Banco Salviati. Schon wieder falsch! Sie seufzte auf und tauchte in das Halbdunkel des Fußweges ein, der unter mehreren Häusern hindurchführte und mit Säulen zum Kanal hin abgegrenzt war.
An jeder nur erreichbaren Stelle, ob an Hauswänden, Brückenmauern oder Eingangstüren, hatten Jugendliche ihre grellbunten Graffitis hinterlassen. Meist waren es nur wilde Schmierereien oder Namenszüge, als wollten die Verfasser damit verzweifelt auf ihre Existenz hinweisen. Vielleicht war dies ein Aufbegehren der Jugend gegen das Gefängnis einer jahrhundertealten Stadt. Eine Stadt, die so sehr an der Vergangenheit festhielt, dass sie die Gegenwart zu verleugnen schien – und somit auch alles Lebendige, das sich in ihr befand.
Hätte sie doch nur daran gedacht, ihre Handschuhe mitzunehmen! Ihre Finger, die die Transportbox aus schwarzem Styropor umklammert hielten, waren gerötet und taub vor Kälte. Aber wenigstens hielt die Kiste das Essen darin warm, denn Francesca irrte schon seit einer halben Ewigkeit durch den Stadtteil Santa Croce und hatte die Calle della piccolezza, in der sich das Antiquariat befinden sollte, immer noch nicht gefunden. Alle anderen Kunden hatte sie schon beliefert, es fehlte nur noch ein gewisser Horatio Baldini. Er gehörte zu ihren treuesten Stammkunden und ließ sich drei Mal in der Woche das Mittagessen in sein Geschäft kommen. Baldini war ein alter Freund der Familie und deshalb hatte bisher immer Stella seine Essenslieferung übernommen. Doch Fiorella, die wie jeden Tag um die Mittagszeitauf einem Stuhl in der Küche saß
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