Die Schattenträumerin
liegt.«
Francesca wagte nicht, sich zu bewegen. Dieses Wesen, Nyarlath, sprach mit ihr – war das nicht ein gutes Zeichen? Wenn er sie mit seinen spitzen Krallen hätte aufspießen wollen, hätte er es längst tun können.
Er trat noch dichter an Francesca heran und sofort verflogihre Hoffnung wieder. Nyarlaths bösartige Aura umhüllte sie wie mit eiskalten Schwingen und presste alle Wärme aus ihr heraus. Dies war ein Wesen, das nur aus Dunkelheit und Hass bestand.
»Und ich will das Necronomicon!«, zischte er.
»Was?«, entfuhr es Francesca entsetzt. Woher wusste er, dass sie das Necronomicon hatte? Hatte er sie etwa beobachtet, als sie aus Baldinis Antiquariat gekommen war?
»Ein Buch«, gab Nyarlath eisig zurück. Er schien ihren Ausruf glücklicherweise missverstanden zu haben. »Ein sehr altes Buch, das ich unbedingt haben muss. Schon deine Vorgänger haben von mir den Auftrag erhalten, das Necronomicon zu suchen.«
Sie atmete auf. Anscheinend hatte Nyarlath keine Ahnung davon, dass sie das Necronomicon bereits gefunden hatte. »Meine Vorgänger?«
»Die Erstgeborenen einer jeden Medici-Generation.«
Francescas Gedanken überschlugen sich. Hatte ihr Großvater deswegen nach dem Necronomicon gesucht? Hatte Nyarlath auch ihm den Auftrag dazu erteilt? Aber Leonardo hatte anscheinend nicht vorgehabt, es ihm auszuhändigen.
»Warum ausgerechnet meine Familie? Warum die Medicis?«
»Du stellst zu viele Fragen, Mädchen. Strapaziere nicht meine Geduld!«, sagte Nyarlath gereizt, ließ sich jedoch trotzdem dazu herab, ihre Frage zu beantworten. »Dieses eine Exemplar des Necronomicons hat eine besondere Verbindung zu deiner Familie. Es wird, sobald es ihm möglich ist, immer wieder zu einem Medici zurückkehren. Wenn esjemand finden kann, dann bist es du. Oder besser gesagt – es findet dich.«
Das mochte sogar stimmen. Sobald das Necronomicon aus seinem Salzwassergefängnis befreit worden war, gelangte es über Baldini wie zufällig zu ihrem Großvater – zu jenem Mann, der es jahrzehntelang wie die Stecknadel im Heuhaufen vergeblich gesucht hatte. Doch dann hatte Baldini es ihm abgenommen und das Necronomicon in sein nächstes Gefängnis gesteckt – bis zu dem Tag, an dem Francesca es herausgeholt hatte.
»Bisher haben sich alle Medicis meinem Wunsch gefügt und ich rate dir, es ihnen gleichzutun. Denn wie du siehst, bist du nirgends vor mir sicher«, sagte er mit drohender Stimme. »Ich schleiche mich in eure Träume und quäle euch so lange, bis ihr meinen Auftrag erfüllt habt. Das Schöne daran ist, dass man im Traum nicht lügen kann.« Er hob seine Hand und fuhr mit einer seiner Krallen Francescas Hals entlang. Aus den Augenwinkeln bemerkte Francesca, dass die Spitze der Kralle nicht wie die anderen schwarz war, sondern in einem gefährlichen Rot leuchtete. »Wirst du meinen Auftrag ebenfalls annehmen? Wirst du das Necronomicon für mich suchen?«
Francesca schloss die Augen und wagte nicht einmal, zu atmen. »Ja, das werde ich«, wisperte sie.
»Das ist eine sehr kluge Entscheidung von dir.«
Er trat einen Schritt von Francesca zurück. Sie japste nach Luft und hatte das Gefühl, dass ihr vor Erleichterung fast die Beine wegsackten.
»Die Zeit drängt. Da du es in den letzten Nächten vorgezogenhast, mir den Zugang zu deinen Träumen zu verwehren, musste ich dich leider hier in der Realität aufspüren. Das hat mich sehr verärgert.« Er schnalzte unwillig mit der Zunge. »Im Gegensatz zu deinen Vorgängern werde ich dir nicht unbegrenzt Zeit geben, das Buch zu finden.«
»Und warum nicht?«
Er ging zur Mitte der Brücke, wobei er es vermied, direkt unter den Lichtschein der Lampe zu treten. Nyarlath hob den Kopf, schloss die Augen und atmete tief ein. »Das Necronomicon ist hier, ich spüre es. Seit Jahrhunderten war seine Präsenz nicht mehr so stark wie in den vergangenen Tagen. Es wird für dich ein Leichtes sein, zu ihm zu finden.«
Francesca nutzte die Gelegenheit und tastete sich Schritt für Schritt seitwärts. Das Messinggeländer der Brücke war nicht besonders hoch, es ging ihr nur bis zu den Oberschenkeln, trotzdem verwarf sie den Gedanken sofort wieder, einfach in den Kanal zu springen. Das Wasser war um diese Jahreszeit eisig, wahrscheinlich wäre sie innerhalb weniger Minuten steif vor Kälte und würde ertrinken. Aber vielleicht konnte sie seitlich an Nyarlath vorbeihuschen?
In diesem Moment riss er jedoch wieder die Augen auf und drehte sich ruckartig zu
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