Die Schattenträumerin
sich an, als bohre sich ein Messer in ihr Handgelenk. Der Schmerz war so intensiv, dass ihr augenblicklich Tränen in die Augen stiegen. Langsam, quälend langsam, nahm das Stechen und Pochen ein erträgliches Ausmaß an.
Francesca biss die Zähne zusammen und kämpfte sich mühsam wieder in die Höhe. Wenigstens konnte sie weiterlaufen!
Sie lauschte in die Dunkelheit. Wie weit war ihr Jäger noch von ihr entfernt? Würden sich jeden Augenblick seine Krallen in ihre Schulter bohren, um sie zurückzureißen? Sie konnte keinen einzigen Laut vernehmen, doch er musste hier irgendwo sein. Schon vor ihrem Sturz war er viel zu nahe gewesen. Er spielte mir ihr.
Sie presste ihr schmerzendes Handgelenk an ihren Körper und lief weiter. Schon nach wenigen Schritten hörte sie hinter sich wieder das Rascheln des Umhangs.
Lähmende Verzweiflung ergriff sie. Was hätte sie jetzt darum gegeben, dass Gianna an ihrer Seite wäre und ihre Hand halten würde … Sie fühlte sich so unglaublich alleine. Wie konnte es sein, dass ihr während ihrer ganzen Flucht nicht ein einziger Passant begegnete? Warum hatte niemand ihren Schrei gehört?
Wie aus weiter Ferne hallte Fiorellas von Bosheit verzerrte Stimme in ihrem Kopf: »Es wird niemand kommen, um dir zu helfen. In der Dunkelheit herrschen sie. Im Dunkeln haben sie die Macht und beeinflussen, was geschieht.« War ihr Verfolger vielleicht auch eines dieser Schattenwesen? Bestand etwa eine Verbindung zwischen ihm und dem Necronomicon?
Abrupt blieb Francesca an einer Abzweigung stehen. Sie kniff die Augen zusammen. War da vorne nicht ein Licht?
Ja, sie hatte sich nicht getäuscht: Wie die Strahlen der untergehenden Sonne fiel das Licht einer einzelnen Hängelampein das Ende der schmalen Gasse. Sofort schöpfte Francesca neuen Mut. Sie hätte niemals für möglich gehalten, dass sie der Anblick einer Lampe einmal so glücklich machen würde. Sie beschleunigte ihre Schritte und erkannte, dass es eine kleine Brücke war, auf die sie zusteuerte. Sie hatte ein messingfarbenes Geländer und erstreckte sich in einem schrägen Winkel über den Kanal. Francesca entwich ein Lachen. Sie kannte diese Brücke! Zwar hatte sie diese bisher nur vom Wasser aus gesehen, wenn sie darunter mit dem Boot durchgefahren war, aber es gab keinen Zweifel – es war eine Brücke, die ganz in der Nähe des Palazzos lag.
Eine wilde, verzweifelte Hoffnung machte sich in ihr breit und gab ihr neue Kraft. Vielleicht hatte sie doch noch eine Chance, diesem Wesen zu entkommen …
Francesca rannte die Brücke hinauf – und stand plötzlich direkt vor einer Haustüre. Sie war in einer Sackgasse gelandet. Dabei kam es in Venedig nur selten vor, dass eine Brücke direkt an einem Hauseingang endete, und sie hatte ausgerechnet eine von ihnen erwischt. Die Fenster des Hauses waren verrammelt und kein noch so kleiner Lichtschein trat daraus hervor. Trotzdem drückte Francesca ununterbrochen auf die Klingel und trommelte verzweifelt mit der Faust an die Tür. Doch nichts tat sich, kein einziges Geräusch drang aus dem Haus.
Er hatte sie in eine Falle gelockt!
Sie drehte sich langsam um. Die kleine Lampe über der Brücke begann zu flackern. Was würde dieses teuflische Wesen mit ihr anstellen? Würde sie in wenigen Augenblickengenau wie Baldini am Boden liegen, mit fünf tiefen Kratzern über der Brust?
Das Herz schlug Francesca bis zum Hals. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Die Spitze der Pestmaske bohrte sich wie ein Messer durch den Nebel.
Das Wesen, das nur aus tiefem Schwarz zu bestehen schien, trat an Francesca heran. Es sog genüsslich die Luft ein, als würde es Francescas Duft gierig in sich aufnehmen, ihn verschlingen.
»Endlich sehen wir uns wieder!«, sagte er mit einer krächzenden Stimme, die Francesca einen Schauer über den Rücken jagte. Genau wie in ihrem Albtraum klang sie, als käme sie aus den Tiefen einer dunklen Höhle. »Eine Jagd wird erst dann interessant, wenn die Beute nicht allzu berechenbar ist. Aber du bist leider wie ein kleiner, dummer Falter zum Licht gelaufen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass dies dein Ende sein wird.«
»Wer … sind Sie?«, stammelte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Was wollen Sie von mir?«
Das Wesen legte den Kopf schief, ohne Francesca dabei aus den Augen zu lassen. »Ich bin Nyarlath«, fauchte er. »Ich bin der Bote und der Wille jener Mächte, die das Dunkel beherrschen. Ich bin der Fluch, der über Venedig
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