Die Schattenträumerin
Francesca um.
»Ich höre die Rufe meiner Brüder wie eine verlockende, weit entfernte Melodie. Trotzdem kann ich nicht selbst nach dem Buch suchen. Es ist kräftezehrend, in dieser menschlichen Gestalt erscheinen zu müssen.« Er betrachtete für einen Moment scheinbar missmutig seine Krallenhände. »Schon zu lange war ich von meinen Brüdern getrennt.«
Er ballte seine Hände zu Fäusten und stand mit einem einzigen Satz direkt vor Francesca. Vor Schreck verlor sie fast das Gleichgewicht und sie musste mit den Armen rudern, um nicht rücklings in den Kanal zu fallen.
»Ich hoffe, du wirst dich weiterhin als so hilfreich erweisen wie bisher!«, zischte er.
Francesca blinzelte verwirrt. »Wie bisher?«
Er lachte leise. »Wir sind uns schon vor einigen Tagen in einem kleinen Campo begegnet, erinnerst du dich? Leider war es am helllichten Tag, sodass ich mich nicht bewegen und mich dir nicht vorstellen konnte. Aber in dieser Nacht habe ich die Präsenz des Buches zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder gespürt und zwar so nah, dass ich die Rufe meiner Brüder deutlich hören konnte. So bin ich zu der Adresse, die du mir am Rand des Brunnens freundlicherweise zugeflüstert hast. Nur leider war ich etwas zu spät.«
Francesca starrte ihn wie vom Donner gerührt an. Es war ihre Schuld, dass Nyarlath im Antiquariat aufgetaucht war? Baldini hatte ihr vor seinem Tod noch erzählt, dass er das Necronomicon nach ihrem ersten Besuch aus seinem Versteck geholt und darin gelesen hatte. Von Gewissensbissen geplagt hatte der alte Mann nach einem Weg gesucht, ihr zu helfen. Ehe der Dämon jedoch das Antiquariat hatte ausfindig machen können, musste Baldini das Necronomicon wieder in seinem Versteck verstaut haben – und so war Nyarlath wutentbrannt über Baldini und sein Antiquariat hergefallen. Gequält presste Francesca die Augen zusammen. All dies wäre wahrscheinlich niemals geschehen,wenn sie Nyarlath am Rande des Brunnens nicht versehentlich Baldinis Adresse verraten hätte.
»Nun musst du dich selbst auf die Suche machen. Ich hoffe, es ist nicht zu spät.« Er hob die Nase seiner Pestmaske an und schnüffelte. »Die Spur des Necronomicons wird von Minute zu Minute schwächer. Irgendetwas muss mit ihm geschehen sein.«
Francesca wusste genau, was die Macht des Buches schwächte – es waren Fiorellas Kaffeelöffel, der Schmuck und mehrere Kilo Salz, doch natürlich hütete sie sich davor, Nyarlath etwas davon zu verraten. Sie wusste zwar nicht, was er mit dem Necronomicon vorhatte, aber es war sicherlich nichts Gutes. Er schien mit dem Buch eng verbunden zu sein, immer wieder sprach er von seinen »Brüdern«. Vielleicht plante er, mithilfe des Buches noch weitere Dämonen aus dieser anderen Welt zu holen und so das Portal zu öffnen? Francesca fröstelte bei diesem Gedanken. Dies durfte sie auf keinen Fall zulassen.
»Du hast zwei Tage Zeit, um das Buch zu finden.«
Sie schluckte schwer. »Oder?«
»Oder …« Er schwieg genüsslich und Francesca sah ihn mit großen Augen an.
Etwas begann sich zu verändern. Waren es nur ihre Knie, die vor Angst zitterten? Fing sie an, zu schwanken? Nein, es war der Boden, der unter ihren Füßen bebte!
Das Erdbeben wurde mit jeder Sekunde stärker. Francesca versuchte, das Gleichgewicht zu halten, ging in die Knie und klammerte sich am Messinggeländer fest. Ziegel lösten sich neben ihr vom Hausdach und landeten wiekleine Wasserbomben im Kanal. Francesca wurde von einer wilden Panik erfasst, sie hatte das Gefühl, dass die Welt sich wie in einem Karussell zu drehen begann. Erst nach einigen quälend langen Augenblicken ließ das Beben nach.
Nyarlath beugte sich zu Francesca hinab. »Oder ich werde meinen Auftrag zu Ende bringen und Venedig wird untergehen!«, beendete er seinen Satz. »All deine Vorfahren haben sich für diese Stadt geopfert, es war direkt herzergreifend. Dabei ist es doch nichts als ein Haufen alter Steine, erbaut auf Millionen versteinerter Baumstämme – ein toter, im Meer versenkter Wald. Aber immer, wenn es um ihr geliebtes Venedig ging, haben deine Vorfahren ihren Widerstand gegen mich aufgegeben. Alles Leid, jede Qual haben sie ertragen, nur um diese Stadt zu retten.«
»Wenn … wenn ich Ihnen das Necronomicon nicht gebe, wird Venedig untergehen?«, stammelte sie fassungslos.
Er nickte voller Genugtuung. »Ich wusste doch, dass du mit der gleichen blinden Rührseligkeit an dieser Stadt hängst wie alle Venezianer.«
»Ich bin keine
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