Die Schattenträumerin
Venezianerin!«, lag es ihr trotzig auf den Lippen, doch sie schluckte die Bemerkung hinunter.
»In zwei Tagen übergibst du mir das Necronomicon, hast du das verstanden?«
Sie nickte wortlos. Es war besser, erst einmal auf seine Forderung einzugehen. Vielleicht konnte sie später eine Lösung finden, gemeinsam mit Gianna. Aber dazu brauchten sie Zeit.
Sie schielte zur Seite. Ob sie nun gehen konnte? Würde Nyarlath sie einfach ziehen lassen?
»Da ist noch etwas …« Er packte sie an ihrem verletzten Handgelenk und zog sie in die Höhe. Francesca wimmerte vor Schmerz. »Egal, was dich vor den Albträumen schützt, du wirst es mir jetzt geben! Dann kannst du mir jede Nacht von deinen Fortschritten berichten und ich kann dich auch besser …«, er stieß ein kaltes, leises Lachen aus, das Francesca einen Schauer über den Rücken jagte, »… motivieren!«
Francesca spürte, wie sie erbleichte. Sie schüttelte langsam den Kopf. Er durfte ihr die Traumgondel nicht abnehmen! Ansonsten wäre sie ihm schutzlos ausgeliefert. Doch schon fuhren seine Krallenhände suchend über ihre Kleider. Francesca wollte zurückweichen, doch sie stand bereits zu weit am Rand der Brücke. Sie hob ihre Fäuste und schlug auf ihn ein, doch es war, als ob sie gegen eine Mauer aus massivem Stein einhieb. Sie hatte der Kraft dieses Wesens nichts entgegenzusetzen. Tränen der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen.
Hinter sich hörte sie das Tuckern eines Motors.
Nyarlaths Kralle näherte sich ihrer linken Jackentasche, in der sie die Traumgondel versteckt hatte.
Plötzlich hörte sie vom Wasser aus eine Stimme rufen: »Francesca, spring, schnell!«
Doch die Kralle war schon in ihre Jackentasche hineingeglitten.
J etzt spring doch endlich!«, rief Gianna mit sich vor Panik überschlagender Stimme.
Das war wahrscheinlich ihre einzige Chance! Wenn Francesca schnell genug war, konnte sie die Traumgondel vor Nyarlath in Sicherheit bringen.
Sie stieß sich ab und ließ sich rücklings von der Brücke fallen. Aber es war zu spät. Sie sah es am triumphierenden Funkeln in Nyarlaths Augen. Schon hielt er die Traumgondel wie einen Siegerpokal in seiner Hand, aber Francesca war zu weit entfernt, um danach greifen zu können.
Sie landete auf den im Boot ausgebreiteten Planen und Schwimmwesten, trotzdem war der Aufprall so hart, dass es ihr die Luft aus den Lungen presste. Lichtpunkte begannen vor ihren Augen zu tanzen, dennoch konnte sie erkennen, wie Nyarlath auf der Brücke die Traumgondel zwischen seinen Fingern zerquetschte und die Bruchstücke achtlos in den Kanal fallen ließ. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
»Francesca?« Wie aus weiter Ferne drang Giannas Stimme in ihr Bewusstsein und hielt sie davon ab, tiefer in die traumlose Dunkelheit hinabzugleiten. »Hast du dir etwas gebrochen? Hat er dir wehgetan? Jetzt sag doch bitte etwas!«
Francesca hob mühsam die Augenlider und sah in die besorgten Gesichter von Gianna und Matteo. Stöhnend versuchte sie, sich aufzurichten.
»Bleib lieber noch einen Moment liegen!«, hielt Matteo sie davon ab. »Du bist so käsig wie Parmesan.«
»Du hast vergessen, zu rülpsen«, murmelte Francesca benommen.
»Ein Mann muss Prioritäten setzen können«, verkündete er selbstbewusst, ohne eine Miene zu verziehen. Er blickte über die Schulter zurück auf die im Nebel liegende Brücke. »War das wirklich ein Tourist? Der Typ sah total unheimlich aus. Ich glaube, ich hätte mir vor Angst in die Hosen gemacht, wenn der mich durch halb Venedig verfolgt hätte.«
Stirnrunzelnd drehte Francesca den Kopf zu Gianna.
»Das habe ich euch doch schon alles erzählt«, beeilte sich Gianna zu sagen. »Dieser Kerl ist verkleidet aus einem Maskengeschäft herausgekommen, mit uns zusammengestoßen und dann hat er behauptet, wir hätten ihn ausrauben wollen.«
Verstohlen zwinkerte Gianna ihr zu und Francesca musterte sie mit einer Mischung aus Überraschung und Bewunderung. Sie hätte nicht erwartet, dass ihre Cousine sich trotz der drohenden Gefahr eine derart plausible Lügengeschichte hatte ausdenken können.
»Diese Touristen werden auch immer verrückter«, knurrte Luca vom Steuer aus. In seiner ansonsten so herablassenden Miene spiegelten sich Sorge und Mitgefühl. Anscheinend hatte es auch ihn nicht völlig kaltgelassen, seine Cousine rücklings von einer Brücke fallen zu sehen.
Francesca stellte fest, dass das Schwindelgefühl nachgelassen hatte. Sie richtete sich auf und tastete sich
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