Die Schattenträumerin
Nebelschwaden weiter und gaben einen Teil ihrer Umgebung frei.
Francesca starrte in Giannas Richtung, doch ihr Blick lag auf etwas, das direkt hinter ihrer Cousine aufragte. Ihr stockte der Atem.
»Gianna, geh da weg!«, flüsterte sie.
Ihre Cousine runzelte verständnislos die Stirn. »Von der Brücke?«
»Von dem … Pfeiler. Geh sofort von ihm weg, hörst du?«
Ein steinernes Knirschen ließ Francesca erstarren. Jeder Muskel ihres Körpers krampfte sich vor Entsetzen zusammen.
Wie in Zeitlupe drehte sich Gianna um. Sie sah zuerst auf die gemeißelten Faltenverzierungen des Pfeilers, auf dem ihre Hand ruhte, dann wanderte ihr Blick langsam nach oben.
Dort hatte der Nebel soeben einen Kopf mit einer spitz zulaufenden Pestmaske freigegeben. Die schwarzen Augen hinter der Maske waren direkt auf Gianna gerichtet und funkelten sie voller Bösartigkeit an.
»Das … das ist ja gar kein Pfeiler«, stammelte sie entsetzt. »Hat sich die Statue gerade wirklich bewegt?«
Ehe Francesca antworten konnte, erklang erneut das Knirschen und die Statue hob ihre tödliche Krallenhand, um nach Gianna zu greifen.
Francesca sprang nach vorne und packte Gianna, die immer noch völlig ungläubig die Bewegungen der Statue beobachtete. »Schnell, nichts wie weg!«, zischte sie ihr zu.
Sie zog Gianna mit sich über die Brücke und wandte sich nach rechts. Fieberhaft suchte sie in Gedanken den schnellsten Weg zum Palazzo.
Gianna blickte zurück und stieß einen panischen Schrei aus. »Madonna mia, dieses … Ding folgt uns!«
»Gianna, du musst schneller rennen!«
Schwere Schritte ließen hinter ihnen die Brücke erzittern.
Endlich schien Gianna zu begreifen, in welcher Gefahr sie sich befanden. War sie bisher willenlos hinter Francesca hergestolpert, begann sie nun zu laufen, so schnell es ihre Behinderung zuließ. Trotzdem, so musste Francesca mit einem Blick über ihre Schulter erschrocken feststellen, waren sie nicht schnell genug. Die Silhouette der verwandelten Statue folgte ihnen in ruhigem, gemächlichen Tempo, doch der Vorsprung der Mädchen verringerte sich mit jedem ihrer Schritte.
Sie bogen in eine lang gezogene Gasse, die von beiden Seiten von fensterlosen Häuserzeilen eingerahmt war und in der der Nebel wie zusammengepresste Zuckerwatte stand. Rechts und links von ihnen zweigten alle paar Meter kleinere, schlecht beleuchtete Wege von der Durchgangsgasse ab.
»Wie weit noch bis zum Palazzo?«, stieß Francesca atemlos hervor. »Auf dem schnellsten Weg?«
»Fünf Minuten.«
Das hatte Francesca befürchtet. Sie würden es nicht schaffen … Gianna humpelte immer stärker und ihr Gesicht war mittlerweile nicht nur vor Angst, sondern auch wegen der immer stärker werdenden Schmerzen verzerrt.
Francesca sah sich noch einmal um und fasste einen Entschluss. »Hör zu, Gianna: Bei der nächsten Abzweigung biegst du ab und versteckst dich. Ich warte hier, bis er nahe genug an mich herangekommen ist, und locke ihn von dir weg. Dann kannst du zum Palazzo laufen.«
»Aber …«, setzte Gianna an, um zu widersprechen, doch dann verstummte sie. Ihr schien klar geworden zu sein, dassFrancescas Vorschlag für sie beide die einzige Chance war. Wenn sie zusammenblieben, wären sie verloren.
Sie stoppten vor einer abzweigenden Gasse. Ihre Hände lösten sich nur widerstrebend voneinander.
»Es tut mir so leid!«
»Es gibt überhaupt nichts, was dir leidtun muss, Gianna.«
»Viel Glück!«, flüsterte sie mit erstickter Stimme, dann verschwand sie im Dunkel der Gasse.
Francesca atmete tief durch und drehte sich zu ihrem Verfolger um.
Schon sah sie die breitschultrige Gestalt vor sich aus dem Nebel auftauchen. Vor Schreck setzte ihr Herz einen Schlag lang aus. Er war bereits viel näher, als sie erwartet hatte.
Nur noch fünf, sechs Schritte, dann hatte er sie erreicht.
Nervös huschten ihre Augen zu der abzweigenden Gasse. Sehr gut, von Gianna war nichts zu sehen! Francesca durfte jetzt keinen Fehler machen. Um Gianna nicht zu gefährden, musste sie unbedingt die Nerven behalten.
Noch vier Schritte.
Schon erkannte sie die Falten seines wehenden Umhangs, die nach hinten spitz zulaufende Kapuze, die Kälte und Bösartigkeit in den Augen hinter der Maske – und die messerscharfen Krallenhände. Schlagartig wurde ihr klar, dass es diese Krallen gewesen sein mussten, die sich im Antiquariat in Baldinis Gondel gegraben hatten. Damals hatte sie sich nicht erklären können, was für eine Waffe solche tiefen Kratzer
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