Die Schattenträumerin
vorsichtig ab. Bis auf ihr schmerzendes Handgelenk schien sie keine Verletzungen davongetragen zu haben. »Wie habt ihr mich eigentlich gefunden?«
»Als ich im Palazzo angekommen bin, sind Luca undMatteo gerade aus Murano zurückgekommen«, erklärte Gianna. »Ich habe ihnen erzählt, in welchen Schwierigkeiten du steckst, und dann haben wir uns sofort auf die Suche nach dir gemacht.« Sie seufzte erleichtert auf. »Offen gestanden hätte ich nicht erwartet, dass wir dich so schnell finden. Es war wirklich großes Glück, dass du schon in der Nähe des Palazzos warst!«
»Danke!«
Francesca kämpfte mit den Tränen. Dass die drei trotz des dichten Nebels bereit gewesen waren, die ganze Stadt nach ihr abzusuchen, rührte sie mehr, als sie sich im ersten Moment hatte eingestehen wollen. »Das … das war echt lieb von euch«, schniefte sie.
Matteo winkte ab. »Hey, wir sind doch eine Familie – wir lassen niemanden im Stich!«
Gianna, Matteo und Francesca fielen sich in die Arme, nur Luca stöhnte genervt auf und machte angesichts der rührseligen Szene lautstarke Würgegeräusche. Anscheinend war er nun wieder ganz der Alte.
»Denk nur nicht, dass das jetzt zur Gewohnheit wird«, bluffte er Francesca an. »Du hast mich wegen der zusammengeleimten Bücher nicht bei meinen Eltern verpfiffen und ich habe dir bei diesem Spinner geholfen. Jetzt sind wir quitt. Klar, Hexe?«
Francesca seufzte ergeben auf. »Ja, ist klar!« Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn Luca seine neu entdeckten sympathischen Charakterzüge beibehalten hätte. Aber immerhin wussten sie nun, dass auch er eine nette Seite haben konnte.
Vor ihnen tauchte das Ca’nera aus dem Nebel auf und noch nie war Francesca so froh über den Anblick des verfallenen Palazzos gewesen wie in diesem Augenblick.
»… wurde Venedig in der vergangenen Nacht von mehreren Erdstößen erschüttert«, quäkte die Stimme aus dem Radio. »Nach der europäischen makroseismischen Skala erreichten die Beben dabei maximal die Stärke vier. Obwohl es sich somit um relativ leichte Beben gehandelt hat, macht sich in Venedig Panik breit. Hoteliers berichten, dass heute Morgen schon vor dem Frühstück die ersten Touristen abgereist sind.«
Fiorella drehte das Radio auf ihrem Nachttisch ab und ließ sich stöhnend auf ihr Kopfkissen zurücksinken. »Und du meinst wirklich, dass dein Verfolger von gestern Abend diese Erdstöße verursacht hat?«
Francesca nickte unglücklich.
»Kann Venedig durch die Beben denn tatsächlich im Meer versinken?«, fragte sie voller Sorge. »Die Stadt steht doch nicht ausschließlich auf Baumstämmen, sondern teilweise auch auf Inseln.«
»Das stimmt, aber deswegen sind diese Teile Venedigs nicht automatisch sicherer.« Fiorella hob hilflos die Hände. »Meine Eltern haben mir erzählt, dass in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Fischer plötzlich antike Vasen, Statuen und andere Gegenstände in ihren Netzen gefunden haben. Es stellte sich heraus, dass die Sachen von der Insel Metamauco stammten.«
»Metamauco?«, wiederholte Francesca irritiert. »Von dieser Insel habe ich noch nie gehört.«
»Metamauco ist nach einem Seebeben 1110 vor dem Lido auf dem Meeresgrund versunken.«
Francesca sackte in sich zusammen. Das bedeutete, dass es Venedig genauso ergehen konnte.
Sie fuhr sich über die brennenden Augen. Ihr Körper fühlte sich schwer an vor Erschöpfung. Sie hatte die ganze Nacht über kein Auge zugemacht. Nicht nur, weil jeder neue Erdstoß sie an Nyarlaths Drohung erinnerte, sondern auch, weil sie es nicht wagte, ohne die Traumgondel zu schlafen. Was würde geschehen, wenn sie Nyarlath im Schlaf begegnete? Wenn Francesca tatsächlich im Traum nicht lügen konnte, würde der Dämon sicherlich sofort herausfinden, dass Francesca das Necronomicon schon längst in ihrem Besitz hatte – und dann wäre ihr einziger Vorteil dahin.
Fiorella tastete nach Francescas Hand und drückte sie ermutigend. »Gemeinsam werden wir einen Weg finden, diesen Dämon auszutricksen! Du hast bisher alles so großartig gemeistert, Francesca, besser, als ich es je erwartet hätte. Ich werde nicht noch einmal den Fehler machen, nicht auf dich zu hören.« Sie ballte mit kampfbereiter Miene die Faust. »Jedenfalls scheine ich gerade rechtzeitig heimgekommen zu sein. Zusammen werden wir diesem Nylatzki in den Hintern treten!«
Gegen ihren Willen musste Francesca auflachen. »Nyarlath, Nonna, er heißt Nyarlath.« Sie wurde wieder ernst. »Meinst
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