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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
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leiden konnte. Erzähl du es ihr, zu dir hat sie mehr Vertrauen.«
    Es war das alte Lied. »Zu dir hat sie mehr Vertrauen!« Als hätte mir dieses Vertrauen jemals etwas genützt. Im Gegenteil, es behinderte mich, es zwang mich in die Rolle der besten Freundin, außerdem ließ mich dieser Vollidiot nur an sie ran, wenn es ihm gerade passte. Zum Teufel mit diesem Scheißspiel!
    »Ja klar!«, sagte ich zornig. »Um sie zu vernaschen, hast du genug Vertrauen, aber um dich mit ihr anzulegen, nicht.«
    »Sag mal, bist du übergeschnappt, oder was?«, geriet er in Rage. »Sie bringt es doch fertig und glaubt, dass ich ihn hab umbringen lassen, kapierst du das nicht?«
    »Ja klar! Ich hab ganz vergessen, dass ich hier ja der Volltrottel bin. Ich bin es, der schön die Klappe halten soll, der alles runterschlucken muss, der sich mit dem Zuschauen begnügen muss, der Einzige, dem man Vertrauen schenkt, aber nur, damit es ihm noch beschissener geht!«
    »Was soll das heißen?«, fragte Emilio. »Was redest du da eigentlich?«
    Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und hoffte, dass mir die Wut, die mir das eingebrockt hatte, da auch wieder raushelfen würde. Ob zum Guten oder zum Schlechten, in diesem Moment wusste ich es jedenfalls nicht. Wir mussten auf einmal beide den Mund halten, und vor Überraschung hörten wir auf zu schreien.
    »Was ist denn mit euch los, Jungs?«, fragte Rosario, während sie abwechselnd von einem zum anderen schaute.
    »Rosario!«, riefen wir im Chor.
    Die Hitze wich einem kalten Schauder und die Aufgeregtheit der Erstarrung. Wir schauten uns an auf der Suche nach einer Antwort, einem Zeichen, einem Licht, einem Wunder, irgendetwas, das den Knoten zerschlagen konnte, der sich plötzlich gebildet hatte. Es entstand lediglich ein betretenes Schweigen, das Rosario mit derselben Frage brach.
    »Was ist denn los, Jungs?«
    Mit einem Blick machte ich Emilio ein Zeichen, dass er Rosario die Zeitung zeigen sollte. Weil sie während unserer Auseinandersetzung ziemlich zerknittert worden war, versuchte Emilio, sie mit den Händen glatt zu streichen, und drückte sie ihr wortlos in die Hand. Sie nahm sie, ohne genau zu kapieren, worum es ging, obwohl sie bestimmt etwas ahnte, denn bevor sie hineinschaute, setzte sie sich erst, strich sich das Haar hinters Ohr und räusperte sich. Emilio und ich setzten uns ebenfalls. Bei dem, was kommen würde, war es besser, einen Halt zu haben. Die Explosion blieb wider Erwarten aus. Sie senkte den Kopf, bedeckte das Gesicht mit den Händen und fing an zu weinen. Erst ganz leise, dann immer heftiger, mit erstickten Schreien, vernichtet von der Nachricht. Emilio und ich schauten uns an. Wir hätten sie gerne umarmt, ihr unsere Schulter angeboten, aber wir wussten, wie empfindlich Rosario auf eine unpassende Geste reagieren konnte.
    »Ich wusste es«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich wusste es.«
    Doch selbst wenn man es weiß, kann man sich nicht daran gewöhnen. Wir alle wissen, dass wir sterben müssen, und trotzdem … In Rosarios Fall war es besonders auffällig, weil der Tod ihr täglich Brot war, die häufigste Nachricht, sogar ihr Lebensinhalt. Mehrfach hatten wir sie sagen hören, »es ist nicht wichtig, wie lange man lebt, sondern wie man lebt«, und wir wussten, dass dieses »wie« bedeutete, täglich sein Leben für ein paar Pesos, für einen Fernseher, einen Kühlschrank für die Mutter oder ein zweites Stockwerk auf dem Haus aufs Spiel zu setzen. Doch erst, als ich sie so sah, begriff ich, dass der Tod in der Verteilung des Leids gerecht war.
     
    Mit gesenktem Kopf streckte Rosario ihre Hand aus, die sich genau in der Mitte zwischen Emilio und mir befand, weder näher bei ihm noch bei mir. Doch war es Emilio, der von seinem Recht als Freund Gebrauch machte und sie ergriff. Sie brauchte allerdings mehr als das.
    »Du auch, Kumpel«, sagte sie, und ich fühlte, dass es unmöglich war, sie noch mehr zu lieben.
    Sie drückte fest unsere Hände. Ihre Hand war tränennass und kalt wie ihr Atem, und sie zitterte, obwohl wir sie fest umklammerten. Mit der anderen wischte sie sich über die Augen, die nicht aufhörten zu tränen. Sie strich die Haare zurück, die ihr ins Gesicht fielen, legte die Hand auf ihr Herz, das zu zerspringen drohte, und hob die Zeitung auf, die heruntergefallen war, führte sie an den Mund und drückte einen langen Kuss auf Ferneys Fotografie. Danach kam die zum Vorschein, die sich versteckt hatte, die dieser Schlag nicht

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