Die Scherenfrau
lange Zeit so verharrten, und dann dachte ich daran, wie kompliziert doch das Leben war, und an die Schlange der Verliebten, und an den Letzten in der Schlange, den niemand liebte, und ich fragte mich, ob es Ferney war oder ich. Dann sah ich, wie sie ihn an der Hand nahm, ihm beim Aufstehen half und ihn, ohne loszulassen, zum Apartmenthaus führte. Sie verschwanden aus meinem Blickfeld, bis sie die Wohnung betraten und in die Küche gingen. Ich hörte das Geklapper von Tellern und Besteck und eine gespannte Stille, die mich daran erinnerte, dass drei einer zu viel sind.
»Das Leben ist schon seltsam, Kumpel«, mir fiel auch wieder ein, was Rosario einmal gesagt hatte, »der Tag, an dem Ferney einen echten Spitzenjob machte, an diesem Tag war Schluss mit uns.«
»Es war wegen ihnen, stimmts?«
»Stimmt«, sagte sie. »An dem Tag lernte ich sie kennen.«
»Du hast mir noch immer nicht erzählt, wie es dazu kam«, beschwerte ich mich.
»Natürlich hab ichs dir erzählt.«
Es passierte, als Johnefe und Ferney gemeinsam nach Bogota reisten, um für La Oficina einen Auftrag zu erledigen. Die Frauen hatte man zu einer Finca gebracht, während sich die Jungs um den Job kümmerten und sich danach dort mit ihnen treffen wollten. Die Finca gehörte ihnen.
»Sie tauchten so um Mitternacht dort auf«, erzählte mir Rosario. »Johnefe und Ferney waren schon da. Die beiden waren mächtig in Stimmung, und die anderen hatten wohl auch Lust zu feiern. Sie kamen ziemlich gut gelaunt an, mit Musik, Drogen und noch mehr Frauen. Na ja, du weißt schon. Jedenfalls waren sie ausgesprochen nett und sympathisch, vor allem mir gegenüber.«
Ich konnte sie mir gut vorstellen. Ich sah sie wie die Geier über der Beute kreisen, die Rosario eigentlich nicht war, aber es machte mich wütend, mir vorzustellen, wie sie sie lüstern und mit einer Zügellosigkeit, die sich an ihren Bäuchen ablesen ließ, und mit ihrem dreckigen Gelächter anglotzten. Ich lag richtig, denn sie selbst erzählte mir, was sie aufgeschnappt hatte:
»Und wer ist dieses hübsche Kind?«, hatte der Härteste der Oberharten gesagt. »Bringt mir dieses Törtchen hierher.«
Und weil das »Törtchen« wusste, um wen es sich handelte, ließ sie sich ohne zu zögern hinbringen, und bestimmt wackelte sie dabei mit den Hüften, und bestimmt warf sie ihm sehnsüchtige Blicke zu, und ganz bestimmt lächelte sie ihn an, wie sie mich angelächelt hatte in der Nacht, in der sie etwas von mir wollte.
»Und Erley?«, fragte ich sie. »Was hat der für ‘n Gesicht gemacht?«
»Ferney«, korrigierte sie mich. »Hab sein Gesicht nicht gesehen.«
»Du hast es nicht fertig gebracht, ihn anzuschauen, Rosario Tijeras«, sagte ich nicht zu ihr, aber ich wusste es, denn uns schaute sie auch nicht an, wenn sie zu ihnen ging. Mich konnte sie auch nicht anschauen, als sie nackt neben mir lag und nicht einmal mit einem Laken bedeckt war.
»Und Johnefe?«, wollte ich noch wissen.
»Das ist Sache der Kleinen«, hatte Rosario ihn sagen hören.
Ich kannte sie damals noch nicht. Aber ich weiß, dass wir alle sie an diesem Tag verloren. Sie verlor sich selbst ein Stück weit, und alles, was sie einmal gewesen war, alles war nur noch in ihrer Erinnerung vorhanden. In diesem Augenblick nahm ihr Leben eine radikale Wendung, die sie aus ihrem Elend herausholte und neben uns wieder absetzte. Auf der Seite der Welt, wo es abgesehen von der Kohle keine großen Unterschiede zu dem Leben gab, das sie hinter sich ließ.
»In diesem Augenblick hat sich mein Leben verändert, Kumpel.«
»Zum Guten oder zum Schlechten?«, fragte ich sie noch immer wütend.
»Ich war auf einmal nicht mehr arm«, antwortete sie mir. »Das ist schon ‘ne Menge.«
Nachdem Rosario Ferney in das Apartment geholt hatte, blieb er mindestens eine Woche. Ich ging ein wenig auf Distanz, aber nicht so sehr wie Emilio, der von der Bildfläche verschwand. Zumindest blieb es bei unseren täglichen Telefonaten und dem einen oder anderen Besuch. Ich stellte ihr keine Fragen. Weder was mit Ferney los war noch weshalb er bei ihr geblieben war. Ich wollte nichts wissen, mir nicht einmal ausmalen, was zwischen ihnen lief, ob sie miteinander ins Bett gingen, ob sie beschlossen hatte, zu ihm zurückzukehren. Nichts. Auch forderte ich sie nicht zurück, mit welchem Recht auch, denn eine einzige gemeinsame Nacht gibt einem dieses Recht nicht. Allerdings lag ich mit meiner Vorahnung richtig, dass Ferney dabei war, sein letztes Feuerwerk in
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