Die Schicksalsgabe
Ende meines Lebens!«
»Iskander, hör mich an …«
»Nein!« Er wandte sich ab, hielt sich die Ohren zu.
Ulrika stand auf, legte eine Hand auf seinen Arm. »Tut mir leid, aber Asmahan ist tot. Bitte glaube mir, wenn ich sage, sie ist im Paradies.«
Er sah sie traurig an. Seine Schultern sackten ein. »Ich glaube dir, denn du hast den heiligen Feueraltar Zarathustras gesehen. Ich glaube an deine besondere Gabe. Wahrscheinlich weiß ich schon die ganze Zeit, dass meine Frau tot ist. Ich sollte glücklich sein, sie im Paradies zu wissen«, sagte er gepresst, »aber das bin ich nicht. Man hat Asmahan und mir ein gemeinsames Leben geraubt. Und diese Schurken, die da unten am Berg lagern, sollen dafür büßen.«
»Iskander«, sagte Ulrika leise, »hör mich an. Du bist der Letzte deines Stammes. Das habe ich in meiner Vision gesehen. Nicht anders als Veeda die einzige Überlebende ihres Volkes ist. Wenn du deinen Racheakt durchführst, wirst du mit Sicherheit selbst getötet. Du solltest an dein Volk denken, Iskander. Durch dich kann es weiterbestehen. Wenn du aber stirbst, dann ist es mit ihm wirklich aus und vorbei.«
Iskander schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Als Veeda ihn in die Arme schloss, schluchzte er an ihrer Schulter. Ganz fest hielt sie ihn umfangen, sprach beschwichtigend auf ihn ein.
Allmählich beruhigte er sich. »Vielleicht hast du recht, Ulrika«, sagte er langsam. »Wenn ich meine Feinde erschlage und ihr Dorf niederbrenne, wird immer einer mit dem Leben davonkommen und mir so lange nachstellen, bis er mich erwischt und damit mein Stamm restlos ausgelöscht ist.« Er schwieg, starrte lange zu den Bergen hinüber. Dann sagte er: »Ja, ich bin meinen Vorfahren verpflichtet, Rache zu üben, aber noch mehr verpflichtet bin ich meinen
Nachkommen
und auch Veeda und ihrem Volk, denn nur durch uns werden unsere beiden Geschlechter fortbestehen.«
Ulrika legte ihm die Hand auf die Wange. »Iskander, erfülle Veeda mit Stolz, die Ehefrau eines Prinzen zu sein. Bau euer Haus und sorge dafür, dass viele Kinder darin herumtoben, denn du bist der Begründer eines neuen Stammes.« Sie dachte daran, dass Iskander ursprünglich nach Osten gehen wollte, sie ihn aber überredet hatte, sie in die Stadt der Geister zu bringen. Wäre er nach Osten gezogen, hätten ihn seine Verfolger höchstwahrscheinlich gestellt und umgebracht. Somit hatte sich die Prophezeiung Miriams erfüllt – dass Ulrika einem Prinzen helfen sollte, sein Volk zu retten.
29
Mit dem ersten Schneefall im Tal verließen die drei ihr Lager in den Ruinen und schlüpften so lange bei Zeroun und seiner Familie unter, bis Iskander getreu der Tradition seines Stammes ein kleines Haus gebaut hatte, in dem sie den Winter verbrachten. Iskander machte sich weiterhin handwerklich nützlich, sorgte mit anderen dafür, die Häuser der Karawanserei winterfest zu machen; Veeda half beim Kochen und unterhielt die Dorfbewohner mit Singen und Tanzen. Ulrika stand Kranken bei, ging aber jeden Tag zum steinernen Torbogen, wo sie inzwischen regelmäßig die Vision von den Kristallenen Teichen von Shalamandar heraufzubeschwören verstand, wo sie meditierte und betete und ihre spirituelle Gabe und deren Kraft mehrte.
Kaum dass die Schneeschmelze eingesetzt hatte, zog von Norden her eine Karawane durch, die Ulrika gegen Bezahlung mitnahm.
Beim Abschied von Iskander und Veeda umarmte sie die beiden liebevoll.
Als sie Zeroun Lebewohl sagte, fragte sie, ob er der Letzte seiner Art sei. »Weder bin ich der erste Magus von Shalamandar«, erwiderte er, »noch werde ich der Letzte sein. Denn solange Menschen auf der Suche nach der Wahrheit sind, wird es in diesem Tal einen Magus geben.«
Die Gedanken bereits auf ihr neues Ziel ausgerichtet, nahm Ulrika ungeduldig den ihr zugewiesenen Platz in der Karawane ein.
In Babylon wollte sie die Suche nach den Verehrungswürdigen vorantreiben und sich jeden Tag nach Neuigkeiten von einem Handelszug umhören, der sich auf dem Rückweg aus dem fernen China befand …
Siebtes Buch China
30
»Man nennt sie Orakelknochen«, sagte der dritte Dolmetscher zu Timonides. »Sie sagen die Zukunft voraus.«
Fasziniert verfolgte der griechische Astrologe, wie der Wahrsager, ein Mann aus einem Gebirgsdorf, das Schulterblatt eines Ochsen mit Blut bestrich und es dann dort auf das Lagerfeuer legte, wo es am heißesten war. Während alle darauf warteten, dass der Knochen barst und eine Botschaft der Ahnen preisgab, warf
Weitere Kostenlose Bücher