Die Schicksalsgabe
vergaß Timonides tatsächlich seine Schmerzen und beobachtete, wie Sebastianus der jungen Frau das Gepäck samt Wasserschlauch und Proviant abnahm und sich selbst auflud, so dass sie ungehindert und sittsam ihren Schleier an das Gesicht drücken konnte – eine den Römerinnen eigene Geschicklichkeitsübung, über die Timonides immer wieder staunte.
Ein merkwürdiges Mädchen, befand er, als die beiden näherkamen. Dem Faltenwurf, der Farbe ihres Gewandes und der Palla nach zu schließen war sie eine Patrizierin, und doch hatte sie ihr Gepäck bislang selbst getragen. Zweifellos hatte sie vor, Verwandte zu besuchen, vielleicht einer werdenden Mutter beizustehen – Anlässe, weswegen Frauen vornehmlich Reisen unternahmen. Zu seiner Überraschung ging sie, ohne zu zögern, auf ihn zu.
»Sind es Zahnschmerzen, die dir zu schaffen machen?«
Timonides schaute in himmelblaue Augen, umrahmt von hellbraunem Haar. Beim Zeus, wo hatte sein Meister nur dieses Mädchen entdeckt! »Von den mir verbliebenen Zähnen, junge Frau«, sagte er, »macht mir, den Göttern sei Dank, keiner Kummer. Was mir Qualen bereitet, ist meine Kinnlade.«
»Mein Name ist Ulrika«, sagte sie freundlich, »darf ich mal sehen?« Ungeniert setzte sie sich ihm gegenüber, streckte die Hand aus und tastete mit den Fingerspitzen unendlich sanft sein Kinn und den Hals ab. »Nimmt der Schmerz zu, wenn du etwas isst?«
»So ist es«, sagte er niedergeschlagen. Timonides war nicht umsonst so dick. Astrologie war das Zentrum seines spirituellen und religiösen Lebens, Essen dagegen der Mittelpunkt seiner menschlichen Existenz. Er aß für sein Leben gern. Vom Frühstück am Morgen, wo er Weizenfladen und Honig verspeiste, bis zum Abendessen aus gebratenem Schweinefleisch mit Pilzen bestand sein Tag daraus, unablässig zu kauen und zu schlucken und sich den Wanst vollzuschlagen. Wenn er zwischendurch eine Pause einlegte, schwelgte er in Erinnerungen an seine letzte Mahlzeit und freute sich auf die nächste. Eher hätte er auf Frauen verzichtet, als seine Essgewohnheiten eingeschränkt. Aber jetzt bekam er keinen Bissen hinunter! War das Leben überhaupt noch etwas wert?
»Ich glaube, ich kann dir helfen«, sagte die junge Frau leise, aber bestimmt.
»Das bezweifle ich«, schluchzte er auf. »Mein Meister hat mich in der Stadt zu einem Arzt gebracht, der hat meinen Hals und das Kinn mit einem heißen Senfbrei eingeschmiert. Einen Ausschlag hab ich davon bekommen, wie Feuer hat das gebrannt! Der zweite Arzt verschrieb Mohnwein, damit hab ich nur noch geschlafen. Der dritte zog mir sämtliche Backenzähne. Keine weiteren Ärzte!«
Er war misstrauisch, als sie weiterhin an ihm herumtastete, auch wenn er zugeben musste, dass sie zartfühlend zu Werke ging, ganz anders als die Ärzte, die ihm rücksichtslos den Mund so weit aufgerissen hatten, dass er schon befürchtete, sie würden ihm den Kiefer ausrenken.
Als sie eine empfindliche Stelle unterhalb seiner Kinnlade berührte und er prompt aufjaulte, nickte sie wie zur Bestätigung und bat Sebastianus, Timonides etwas Süßes oder Saures zu essen zu bringen. Der Spanier verschwand in einem Zelt und kam mit einer kleinen gelben Frucht zurück, die Ulrika als eine aus Indien importierte und dementsprechend teuer gehandelte Zitrone erkannte. Statt sie zu schälen, schob sie sie im Ganzen dem alten Griechen in den Mund und sagte: »Beiß da fest drauf.«
Timonides tat wie befohlen, wenn auch unter heftigem Protest – wusste dieses Mädchen nicht, dass Zitronen eine Medizin und nichts zu essen waren! –, und während er Mühe hatte, die saure Frucht nicht auszuspucken, massierte Ulrika die Stelle unterhalb seiner Kinnlade, drückte gnadenlos daran herum.
Gebannt sah Sebastianus Speichel aus dem Mund seines Astrologen rinnen, derweil Ulrikas Fingerspitzen unermüdlich im Einsatz waren, bis das junge Mädchen schließlich sagte: »Jetzt kannst du die Zitrone ausspucken.«
Einer zweiten Aufforderung bedurfte es nicht. Timonides spuckte Speichel und Fruchtfleisch dem jungen Mädchen in die Handfläche.
»Dies hier war der Grund für deine Beschwerden«, sagte sie und deutete auf einen winzigen Splitter. »In deiner Speicheldrüse hatte sich ein Stein gebildet, der mit extrem viel Speichel herausgeschwemmt werden musste.«
»Großer Zeus«, murmelte Timonides und rieb sich das Kinn.
»Eine Weile wird die Stelle noch etwas empfindlich sein«, sagte Ulrika und erhob sich. »Aber das vergeht, und dann wirst
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