Die Schicksalsgabe
Als er seine Atmung verlangsamte und sich, den für ihn so kostbaren Holzlöffel in den Händen, den Geschmack des vor sich hin köchelnden Schmortopfes vorstellte, merkte der alte Astrologe, wie er sich nach und nach entspannte und vieles abwarf, was sein irdisches Leben belastete, so dass sein Geist freigesetzt wurde und sich zu den Gestirnen, die er sein Leben lang geliebt hatte, emporschwingen konnte.
Schon bald spürte er, dass er zwischen den achtundvierzig Konstellationen herumflog, wohlbekannten Freunden, die er jetzt aus nächster Nähe sah: den überheblichen, von einem kleinen Skorpion bedrängten Orion, auf ewig mit erhobener Keule am Himmel stehend, dazu bestimmt, niemals zu fallen. Andromeda, die an einen Felsen geschmiedete Jungfrau, zu der Timonides jetzt die Worte ihres Erretters Perseus sprach: »Solch Ketten sollen dich einzig und allein an die Herzen von Liebenden fesseln.« Und Kassiopeia, vom boshaften Neptun auf ihren himmlischen Thron gesetzt, das Haupt dem Nordstern zugewandt, so dass sie die Hälfte der Nacht kopfüber verbringen musste.
Timonides schwang sich auf den geflügelten Pegasus und ritt die vier Winde. Als sie sich der Sonne näherten, spürte er ihren wärmenden Schein auf seinem Gesicht. Er sah einen eisigen Kometen vorbeistreifen. Nahm eine Kostprobe vom süßen Tau des Mondes.
Er fing an zu weinen. So viel Schönheit. So viel Göttlichkeit. Und er hatte sie beschmutzt. Um seinen elenden Magen zu füllen, hatte er alles befleckt, was er liebte und verehrte. Felsenfeste Überzeugungen und Himmelskörper waren aus Angst vor einem Stein in seiner Speicheldrüse beiseitegewischt worden.
»Es tut mir leid!«, rief er aus, während Meteore und Planeten an ihm vorbeirasten, »vergebt mir!«, als Asteroiden ihn umschwirrten. »Perseus, Herkules, es lag mir fern, euch meinen Respekt zu versagen! Ich bin nur ein einfacher Mann, ein Gespinst aus Schwäche und Furcht. Ich bin nichts im Vergleich zu eurer Größe. Gebt mir noch eine Chance, ich flehe euch an!«
Und dann sah er den glitzernden Nebel, eine Wolke aus Gefühl und Farbe – das gesamte Bewusstsein der Leere – vor seinen Augen entstehen. Der Nebel wallte auf ihn zu, löschte Sterne, Planeten, Sonne und Mond aus, bis Timonides von reinem Raum umfangen war. Alle Angst und Bedrängnis schmolzen dahin, so als fiele ihm das Fleisch von den Knochen. Er weinte vor Freude.
Er ritt weiter die kosmischen Winde, während seine beiden Gefährten ihn nicht aus den Augen ließen. Er schwankte nicht mehr. Er hatte aufgehört, vor sich hin zu murmeln. Fast hatte man den Eindruck, er würde gar nicht mehr atmen. Die Zeit verstrich. Kamele und Männer zogen vorbei. Wie eh und je ging auf dem Sammelplatz für Karawanen das geschäftige Leben weiter, ungeachtet der Wache, die Ulrika und Sebastianus bei ihrem verletzlichen Freund auf dessen Geistwanderung hielten.
Die Sonne neigte sich bereits gen Westen, als Timonides endlich die Augen öffnete und leicht verwirrt seine Freunde anblinzelte.
»Geht es dir gut?«, fragte Ulrika und forschte in seinem Gesicht nach Anzeichen geistiger Verwirrung. Aber seine Haut war gut durchblutet und trocken, sein Blick klar. Sie sah davon ab, ihm den Puls zu fühlen, weil sie befürchtete, durch eine Berührung den Zauber zu durchbrechen.
»Ich bin durstig …« Seine Stimme dünn wie Rauch.
Sebastianus holte ihm einen Becher kühles Wasser, das der Astrologe wie nach einer Wanderung durch die Wüste in einem Zug leerte, um sich dann über den Mund zu wischen. Dass er dabei die Stirn runzelte, verriet Ulrika, dass er versuchte, sich wieder zurechtzufinden. Fragen über seine Reise wollte sie ihm nicht stellen. Er sollte sich Zeit nehmen, in die Gegenwart zurückzukehren.
»Höchst erstaunlich war das«, flüsterte Timonides schließlich und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Ulrika, durch diese Meditation habe ich viel gelernt. Die Götter haben mir Geheimnisse anvertraut. Ist das so, wenn man meditiert? Macht einen das zu einem Bindeglied mit dem Göttlichen? Sie haben zu mir gesprochen …«
Er hielt Sebastianus seinen Becher hin, damit der ihn nachfülle, sagte dann, nachdem er ausgiebig getrunken hatte, zu Ulrika: »Die Geheimnisse, die mir die Götter anvertrauten, müssen Geheimnisse bleiben, das gehört zu meinem heiligen Amt als Astrologe. Aber sie vermachten mir ein weiteres Geschenk: Sie erhellten mein Inneres. Und was ich sah, muss ich euch,
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