Die Schicksalsgabe
Primo überlegte, ob er Sebastianus nicht doch ins Vertrauen ziehen sollte. Zwar hatte ihn der Kaiser persönlich zur Geheimhaltung verpflichtet, und wenn Primo einen Eid leistete, hatte er sich stets daran gehalten. Aber in jüngster Zeit war seine Loyalität dem Kaiser gegenüber ins Schwanken geraten. Er hatte erlebt, wie sich sein Meister in China bewährt hatte, wie rechtschaffen und ehrenvoll er in seinen Verhandlungen vorgegangen war. Und war es nicht Sebastianus gewesen, der ihre Entlassung aus der kaiserlichen »Gastfreundschaft« durchgesetzt hatte?
Primos Miene verfinsterte sich. Er war es gewöhnt, sich mit
Männern
auseinanderzusetzen, nicht mit moralischen Zwangslagen.
»Lass mich rufen, sobald es dir genehm ist, werter Quintus«, schloss er, »und ich werde dir persönlich und in allen Einzelheiten Bericht erstatten, auf dass du mit mir, dessen bin ich mir sicher, übereinstimmst, dass mein Meister eher ein Opfer ist denn ein Verräter. Ich bin überzeugt, dass du Cäsar darin bestärken wirst, nachsichtig mit ihm zu sein. Dein Diener Primo.« Er überlegte kurz, fand dann, dass eine Spur Ergebenheit nicht schaden könnte, und fügte hinzu: »Fidus.«
Worauf der Sekretär grinste.
Ulrika sah hinüber zu Primos Zelt, aus dem noch Licht drang. Sie wusste, dass ein Besucher aus der Stadt bei ihm weilte, ein wichtiger Mann, seinem über und über mit Fransen besetzten Gewand, dem kegelförmigen Hut sowie dem Holzkasten, den er bei sich hatte und der denen von Advokaten ähnelte, nach zu schließen. Es fragte sich nur, was der Oberste Verwalter von Sebastianus mit einem Zivilisten zu besprechen hatte.
Ihr Blick schweifte hinaus in die dunkle Wüste und zum rötlich schimmernden Horizont. Babylon. Eine Stadt, die niemals schlief.
Ein bedrückendes Gefühl überkam Ulrika. Ihr Nacken prickelte. Es war, als würde sich ein Gewitter zusammenbrauen oder sich weit weg in der Wüste, wo dem Vernehmen nach mythische
Dschinn
den Wind anfachten, um die Menschen zu quälen, ein Sandsturm erhob.
Wo blieb Sebastianus? Er war morgens zu einem unaufschiebbaren Treffen mit dem Hohepriester aufgebrochen und sollte längst wieder hier sein.
In den zurückliegenden Tagen hatten sie versucht, die Menschen zum Heimgehen zu bewegen. Stattdessen waren immer noch mehr gekommen, derart viele, dass Sebastianus Primo Anweisungen gegeben hatte, ein kleines Lager einzurichten und es bewachen zu lassen.
Seit der Heilung des kleinen Mädchens waren keine Wunder mehr geschehen. Aber dieser eine Beweis magischer Kräfte hatte ausgereicht, den Glauben daran zu erwecken und zu erhärten. Es wurde nicht mehr geschubst, nicht mehr gedrängelt. Miriam und ihre Familie, Timonides und Primo sorgten dafür, dass sich die Besucher von »Judahs Schrein«, wie er genannt wurde, gesittet verhielten.
Dennoch konnten sie nicht länger bleiben. Es war Zeit, sich auf den Heimweg zu machen.
Ulrika schaute in die dunkle Wüste hinaus und merkte, wie sich ihre Arme mit Gänsehaut überzogen. Irgendetwas war da draußen, kam auf sie zu …
Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit und wehendem Umhang preschte der Reiter durch die vom Mondlicht erhellte Wüste. Unter den Hufen seines Pferdes stob der Sand auf. Sebastianus hatte seine einflussreichen Beziehungen genutzt und nicht zuletzt großzügige Geldspenden verteilt, um Marduks Priester versöhnlich zu stimmen. Aber es war vergeblich gewesen. Jetzt galt es, Ulrika und die anderen zu warnen.
Es war zu spät. Die Tempelwachen rückten bereits an.
Weiterhin auf Sebastianus’ Rückkehr wartend, sah Ulrika hinüber zu der sich still verhaltenden gläubigen Menge und bereute, ihnen diesen heiligen Ort verraten und sie dadurch in Gefahr gebracht zu haben.
War es Judah gewesen, der das kleine Mädchen geheilt hatte? Wo es doch in der großen weiten Welt so viele unterschiedliche Glaubensrichtungen gab und Wunder möglich waren.
Der Wüstenwind, der ihr ins Gesicht blies, erinnerte sie an eine andere Wüste, an einen anderen Wind – an der Küste des Salzmeers. Und an den Ort, an dem Rachel und Almah sie gefunden hatten – auf einem Grab. Wenn sie bislang angenommen hatte, Rachel habe ihren Ehemann auf heiligem Boden beerdigt, fragte sich Ulrika jetzt, da man zum Verehrungswürdigen Judah betete, ob es sich nicht andersherum verhielt. Ob nicht vielmehr Jakob den Boden geheiligt hatte.
Und als ihr noch einfiel, dass Jakob und Judah unter ihrem Meister in Galiläa »Brüder« gewesen
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