Die Schicksalsgabe
anderen auf und flohen, Verwünschungen ausstoßend, in den Wald.
Schwer atmend sah Sebastianus ihnen nach, wischte sich dann über die Stirn und wandte sich an Ulrika. »Was ist mit dir? Bist du unverletzt?«
Sie starrte ihn an. »Ja …« Ihr versagte die Stimme. War er wirklich hier, oder war er eine Vision?
Warum
war er hier? Wie hatte er sie gefunden? Gallus rang nach Luft, seine Brust dehnte sich, die Atemzüge spannten das Gewebe seiner Tunika. Das kurzgestutzte bronzefarbene Haar und der Bart waren vom Kampf schweißnass. Mit welcher Leichtigkeit er das große Schwert geschwungen hatte!
»Sie werden wiederkommen«, stieß er hervor und hob erst seinen Umhang vom Boden auf, dann Ulrikas Bündel. Er sah sich um. Die Sonne war vollends untergegangen, der Abend angebrochen. »Ich bin von meinen Leuten getrennt worden. Sie in der Dunkelheit wiederzufinden, ist so gut wie ausgeschlossen. Siehst du diese Höhlen da? Die dürften uns vorübergehend Schutz bieten.«
Wortlos und wie betäubt ging Ulrika neben ihm her. Ihrer stammeseigenen Kriegsbemalung nach zu schließen, waren die Angreifer Cherusker gewesen, Landsleute ihres Vaters. Der Mann hingegen, der sie gerettet hatte, war ein ihr völliger Fremder. Er war aus dem Nichts aufgetaucht und hatte sie mit seiner unvermuteten Kampfeskunst und Stärke beeindruckt – ein Mann, der gewöhnlich mit seinem Abakus rechnete und Säcke mit Korn zählte.
»Hier«, sagte Sebastianus, als sie eine von verkümmerten Bäumen und Brombeergebüsch umstandene Höhle erreichten. Der Eingang war schmal und kaum zu erkennen, gerade so breit, dass sie hineinschlüpfen konnten. »Hier werden sie uns nicht finden.«
Ulrika jedoch wehrte ab. »Nein, diese hier nicht.«
»Warum nicht? Sie bietet Schutz. Und die Öffnung können wir tarnen.« Sebastianus warf einen Blick zurück in den Wald. Sie mussten rasch ein Versteck finden. Aber als er auf den Eingang zur Höhle zuging, warnte Ulrika: »Nein, hier drin werden sie uns finden.«
Sie schaute sich um, lauschte dem Plätschern des unweit gelegenen kleinen Flusses. Im Dämmerlicht machte sie in einiger Entfernung zwischen mehreren Eichen eine von keinerlei Gebüsch umgebene größere Höhle mit breitem Zugang aus. »Dort«, sagte sie und deutete in die von ihr ausgespähte Richtung, »in der Höhle da vorne werden wir sicher sein.«
Sebastianus war verblüfft. »Dort werden sie uns garantiert aufspüren!«
Aber sie lief bereits voraus, verschwamm in der purpurnen Dämmerung zu einer grauen Silhouette, bis der Eingang zur Höhle sie verschluckte. Sebastianus eilte ihr hinterher, schon weil ihm nichts anderes übrigblieb.
Das Innere der Höhle war ausgesprochen geräumig, es gab weder Abzweigungen noch Felsformationen, hinter denen man sich verstecken konnte. Ebenso gut hätten sie sich mitten auf eine Wiese setzen können! Aber noch ehe Sebastianus Einwände erheben konnte, hörten sie Stimmen – grollende, wütende, brüllende. Die Barbaren waren zurück, und wie es sich anhörte, hatten sie Verstärkung mitgebracht.
Sebastianus ließ die Reisebündel fallen und griff wieder zum Schwert. Ulrika dagegen schien völlig unbekümmert zu sein; ganz gelassen schaute sie zu der felsigen Decke hinauf und dann in der tiefen schwarzen Höhle umher, bis ihr Blick auf den Eingang fiel, an dem sich Sebastianus aufhielt. »Hier sind wir sicher«, wiederholte sie.
Mit einem halblauten Fluch packte Sebastianus Ulrika am Handgelenk, riss sie von der Öffnung weg und drückte sie, ohne die Barbaren aus den Augen zu lassen, an die kalte Felswand.
Ulrika beachtete kaum, wie sich die Germanen unaufhaltsam näherten, sondern starrte gebannt und mit angehaltenem Atem auf Sebastianus’ kraftvolle Arme, auf seine breiten Schultern. Seine Tunika war durchgeschwitzt, der Stoff klebte ihm am Rücken, alle Muskeln waren angespannt und kampfbereit.
Jetzt entdeckte sie den Riss im Stoff, den roten Fleck, der sich am Oberarm ausbreitete. Er war verletzt! Mit sanftem Druck legte sie die Hand auf die Wunde, worauf Sebastianus zusammenzuckte. »Psst«, sagte er dann.
Sie verfolgten, wie die Barbaren die Höhlen in der Umgebung absuchten, hinter Felsbrocken schauten, ihre Schwerter in dichtes Gestrüpp stießen. Sie hörten sie fluchen und sich fragen, wo diese verdammten Römer stecken mochten. Sebastianus war mehr als verblüfft, dass sie der Höhle, in der er sich mit Ulrika versteckt hielt, weder einen Blick schenkten, geschweige denn sie näher in
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