Die Schicksalsgabe
Augenschein nahmen, obwohl sie ihnen aufgefallen sein musste. Gespannt verfolgte er, wie die Germanen tiefer in den Wald vordrangen, bis ihre Schritte und Stimmen endgültig verhallt waren.
Sein Gesicht dicht an Ulrikas, fragte er leise: »Wieso wusstest du, dass sie uns nicht finden würden?«
Anstatt zu antworten, löste sie sich von ihm und öffnete ihr Bündel, wühlte darin herum, um dann ein verkorktes kleines Gefäß und eine Rolle Mull herauszuholen. Wenngleich ihr Gewand zerrissen und schmutzig war und ihre Palla völlig zerfetzt und auch wenn sich Strähnen ihres hellbraunen Haars aus dem Knoten gelöst hatten und ihr über die Schulter hingen, wirkte sie auf Sebastianus doch gefasst und selbstbewusst. Ihr leicht vorgeneigter Oberkörper, die anmutigen Bewegungen ihrer Hände – alles an ihr war geschmeidig, elegant.
Er konzentrierte sich wieder auf die Beobachtung des Waldes, auch wenn von den germanischen Kriegern nichts mehr zu sehen und zu hören war. Das Schwert bereit zum Einsatz, harrte Sebastianus am Eingang zur Höhle aus. Ulrika trat zu ihm, krempelte den zerrissenen Ärmel seiner Tunika hoch, trug behutsam Salbe auf seine Wunde auf, die Sebastianus bisher als kleine Schramme ignoriert hatte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sie trocknen und von selbst verschorfen lassen; das junge Mädchen hingegen reinigte die Wunde, trug noch mehr Balsam auf und umwickelte dann seinen Oberarm mit Mullstreifen. Durchaus fachmännisch, wie er befand, um sich gleich darauf zu erinnern, dass sie ihm erzählt hatte, ihre Mutter sei in Heilkunde bewandert.
Als sie fertig war, schaute sie zu ihm auf. Einen Augenblick lang schien sich die Zeit zu dehnen. Von der dunklen Höhle aus nahm Sebastianus wahr, wie sich die Schatten um sie herum bewegten, so als fänden kosmische Veränderungen statt, und siedend heiß fiel ihm ein, dass er nicht nur von seiner Gruppe, sondern auch von seinem Astrologen getrennt war. Heute würde er sich zum ersten Mal ohne sein abendliches Horoskop zur Ruhe begeben müssen.
Dieser Gedanke beunruhigte ihn. Und die Nähe des jungen Mädchens auch. Sie stand zu dicht bei ihm. Er konnte ihren Atem an seinem Nacken spüren. Er starrte auf ihre Unterlippe, die voll und feucht und sinnlich war.
Er wich zurück, streifte den blutigen Ärmel wieder hinunter, murmelte ein »danke«. Eigentlich wollte er sie nochmals fragen, wieso sie gewusst hatte, dass die Barbaren diese Höhle unbehelligt lassen würden. Aber ihre blauen Augen hielten ihn in Bann. Er entdeckte Schmutzspuren auf ihren Wangen. Kein Wunder, wenn er daran dachte, wie sie sich gegen ihre Angreifer zur Wehr gesetzt hatte. »Die Nacht ist hereingebrochen«, sagte er. »Wir sollten ein Feuer entzünden.«
Erschöpft auf dem kalten Boden der Höhle hockend, sah Ulrika zu, wie Sebastianus, nachdem er Steine gesammelt und sie zu einem Rund für ein Lagerfeuer zusammengefügt hatte, mit Hilfe eines Feuersteins ein Häufchen Laub zum Brennen brachte und dann Zweige und kleine Holzstücke hinzugab. »Ich danke dir«, sagte sie.
»Wofür?« Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, die Stöckchen aufzuschichten. Das Mädchen verursachte ihm Unbehagen. Nicht allein ihre körperliche Nähe. Abgesehen von ihrer Schönheit und Anmut ging eine seltsame Kraft von Ulrika aus – wie sie mit seinem Dolch erst auf die Barbaren losgestürmt war und gleich darauf mit kühlem Kopf ein sicheres Versteck gesucht hatte. Und jetzt schaute sie ihm mit diesen bezwingenden blauen Augen ruhig zu.
»Dass du mir das Leben gerettet hast«, sagte sie.
»Solange du mit meiner Karawane reist, stehst du unter meinem Schutz. Ich bin verpflichtet, dafür zu sorgen, dass du wohlbehalten an dein Ziel gelangst. Als ich entdeckte, dass du nicht mehr im Lager warst, habe ich eine Suchmannschaft zusammengestellt.« Ohne sie anzuschauen, fügte er hinzu: »Ich war wütend, als ich begriff, dass du dich davongemacht hast. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Karawane allein weiterziehen zu lassen und dich zu suchen.«
Als er sah, wie sie plötzlich frierend die Arme um sich schlang, öffnete Sebastianus die Schließe seines blauen Umhangs und legte ihn ihr um die Schultern. Im flackernden Schein des Feuers glänzte die metallene Nadel auf, die den Umhang am Hals zusammenhielt. Es war eine wunderschöne gallische Arbeit.
Ihr Blick auf die Nadel entging ihm nicht. »Eine Witwe in Lugdunum hat sie mir geschenkt. Mit ihrem Mann hatte ich früher gute
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