Die Schicksalsgabe
vollzog sich vor der mit Bisons und Rehen bemalten Kulisse eine Verwandlung: Sein Körper streckte sich, seine Gliedmaßen wurden fest, Muskeln spannten sich unter seiner Haut. Sein eben noch schlohweißes Haar nahm die Farbe von Bronze an, das eingefallene Kinn wurde fülliger und wartete mit einem stoppligen Bart auf.
Sebastianus!
Er trug lediglich einen Lendenschurz. Sie sah die Bandage der Wunde an seinem Oberarm, die sie gereinigt und verbunden hatte, ein Hieb, den er sich zugezogen hatte, als er ihr zu Hilfe gekommen war und immer wieder das schwere Schwert geschwungen hatte. Auf seinem Oberkörper glänzte Schweiß.
Was hatte
er
mit dieser Höhle zu tun, mit dem Schamanen, der hier ruhte?
Sebastianus erfüllte die steinerne Kammer mit seiner Präsenz, seiner männlichen Ausstrahlung. Ulrika, die noch nie jemandem mit einer solchen Aura begegnet war, überlief es wie im Fieber. Sie richtete sich auf und trat vor ihn, blickte diesen kraftvollen Mann an.
Er sprach mit der Stimme des alten Schamanen: »Du darfst dich dem Ruf der Götter nicht entziehen. Du bist mutig, Ulrika. Du wirst dich deinem Schicksal nicht verweigern.«
»Aber ich weiß nicht, wie ich zu den Kristallenen Teichen von Shalamandar komme. Außerdem ist die Reise dorthin lang und beschwerlich.«
»Große Aufgaben sind nicht leicht zu bewältigen.«
Sebastianus streckte die Hand aus, strich ihr langsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann eine weitere. Seine Berührung brannte wie Feuer auf ihrer Haut. Noch nie hatte sie ein derartiges Begehren empfunden. Aber gleichzeitig nahm sie noch etwas anderes wahr, eine ihr bislang unbekannte innere Kraft, die aus einem langen und tiefen Schlummer zu erwachen schien.
Er schloss sie in die Arme, zog sie an sich, legte seine Lippen auf ihre. Ulrika umschlang seinen Nacken, schmiegte sich an ihn, erwiderte seine Küsse, verlor sich immer mehr in seiner Umarmung.
Und dann, wie war das möglich, schien er sich nach und nach aufzulösen, bis sie allein und mit leeren Armen dastand.
Wo bist du …
Über das Feuer hinweg beobachtete Sebastianus, wie unruhig Ulrika schlief. Ihre Lider flatterten, hin und wieder schien sie leise zu stöhnen. Was sie wohl träumte? Sie wirkte irgendwie, als stünde sie im Banne von Magie. Als sie ihm gestanden hatte, über eine außergewöhnliche Gabe zu verfügen, war er nicht überrascht gewesen. Aber an welchen Platz in der Welt mochte ein solch besonderes Wesen hingehören?
Als sie jetzt heftig zu zittern begann, legte er sich neben sie und deckte sie mit seinem dicken blauen Umhang zu. Doch immer noch überliefen Schauer ihre Gestalt, so dass er sie schließlich sanft in die Arme nahm. Ihre Hand fuhr zu seinem Nacken hoch, eine Geste, die Sebastianus’ Verlangen schürte. Aber Ulrika schlief, sie war verletzlich, und sie stand unter seinem Schutz. Er würde ihr Vertrauen nicht missbrauchen.
Er strich ihr übers Haar, flüsterte beschwichtigend auf sie ein, und bald darauf wurde sie ruhig, hörte auf zu zittern. Er sah auf ihre geschlossenen Augenlider, sah die langen Wimpern auf weißer Haut und dachte an das wundersame Geschenk, dass sie ihm, ohne es zu wissen, gemacht hatte – etwas Unbezahlbares, mit dem Sebastianus, sobald er in Rom zurück war, vor Kaiser Claudius treten wollte und das ihm mit Sicherheit das Diplom für China einbrachte.
Mit derart freudigen Überlegungen und das friedlich schlummernde Mädchen weiterhin in seinen Armen, schlief er schließlich ein.
Ulrika schlug die Augen auf, spürte Bartstoppeln an ihrer Stirn reiben. Als sie merkte, dass Arme sie umfangen hielten und sie den Geruch eines Mannes einatmete, erschrak sie.
Sie war in der Gesellschaft von Frauen aufgewachsen, hatte keine Brüder, Onkel oder Vettern. Wo immer sie mit ihrer Mutter gelebt hatte, war das die Wohnung von Frauen gewesen. Noch nie hatte sie erlebt, wie es sich anfühlte, von einem Mann berührt zu werden, hatte noch nie einem Mann beigelegen, noch nie seine Wärme und seine Stärke gespürt. Durfte sie eine solche Nähe überhaupt genießen? Welche Regeln galten hier, in dieser Welt, die keine ihrer römischen Freundinnen je betreten würde?
Sie dachte an das, was sie eben geträumt hatte. Was hatte der Traum zu bedeuten? Was hatte dieser Galicier mit einem tausend Jahre alten Medizinmann zu schaffen? Je länger sie über diese Fragen nachdachte, desto mehr schwand ihre Verunsicherung. Sie wurde sich bewusst, dass sie nicht aus eigenen Stücken ins
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