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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Bewegung, ganz dem Leben nachempfunden. Derartiges hatte Sebastianus noch nie zu Gesicht bekommen.
    »Jemand ist hier begraben«, wisperte Ulrika. »Ein heiliger Mann … vor vielen Jahren.«
    Dem Galicier entging nicht, dass Ulrikas Gesicht von eigenartigen Schatten umrahmt war. Mit weit aufgerissenen Augen durchforschte sie die Dunkelheit, so als hielte sie Ausschau nach diesem heiligen Mann, als erwartete sie, ihn zu entdecken, auf dass er die beiden Eindringlinge willkommen heiße.
    »Deshalb sind wir hier drinnen sicher«, fügte sie leise hinzu. »Deshalb werden diese Männer da draußen nicht hereinkommen. Dies ist ein heiliger Ort, und diesen Boden zu betreten ist ihnen untersagt.«
    »Woher wusstest du das?«
    »Ich glaube …« Sie hielt inne, fragte dann: »Erinnerst du dich an die alte Frau, die dir die Richtung wies, die ich eingeschlagen hatte? Sie nahm mich für eine Weile in ihrer Hütte auf und sagte, dass ich über eine Gabe verfüge.«
    »Was für eine Gabe?«
    »Ich habe Visionen, Träume. Was ich für eine Krankheit hielt, ist den Worten der alten Frau zufolge eine mir von den Göttern verliehene Befähigung, die ich nutzen soll, um anderen zu helfen.«
    Sebastianus nickte. »Meine Mutter glaubte an derartige Gaben. Sie nannte so etwas das ›unsichtbare Auge‹.« Er sah Ulrikas Haar, das ihr auf einer Seite über die Schulter hing, sah den Schmutz auf ihren Wangen und dem Kinn, sah das ramponierte Kleid, die schmalen Schultern, die Enttäuschung und Kummer ausdrückten. Unvermittelt überkam ihn der Wunsch, sie in die Arme zu schließen, sie festzuhalten, sie zu beschützen, eins mit ihr zu werden. »Es ist spät. Du musst schlafen.«
    Auf dem Weg zurück zum Feuer merkte er, wie Ulrika sich bemühte, den Wald da draußen, mit seinen Geistern und Eulen und mordlustigen Barbaren, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Mit der Bemerkung, in der Höhle sei es jetzt warm genug, gab sie ihm seinen Umhang zurück und kuschelte sich dann in ihrem eigenen Mantel unweit des Feuers zusammen.
     
    Ulrika erblickte das Tal, das von Opfern übersät war. Sie sah ihren Vater, niedergestreckt von einem römischen Schwert. Hatte er bis zuletzt gekämpft? Hatte es zehn Soldaten bedurft, den großen Wulf schließlich doch zu bezwingen? Tränen liefen Ulrika über die Wangen, bis sie von dem salzigen Geschmack auf ihren Lippen erwachte.
    Und dann merkte sie, dass sie gar nicht mehr am Feuer schlief, sondern irgendwie zum hinteren Ende der Höhle gelangt war und ganz allein in dem Felsgewölbe stand.
    Gleich darauf sah sie Füße in Sandalen vor sich. Ulrika richtete sich auf und nahm verschwommen einen in ein Bärenfell gehüllten alten Mann mit einem Speer in der Hand wahr. Sein Haar und sein Bart waren weiß und lang. »Ich bin der Götterseher, der Priester unseres Stammes«, sagte er. »Des Wolf-Clans. Diese Wandmalereien habe ich vor unendlichen Jahren geschaffen. Sie erzählen die Geschichte unseres Volkes.
Deines
Volkes. Du hast vergessen, wer du bist, deine früheren Namen, dein Ziel und deine Berufung. Es ist dir nicht bestimmt, Ulrika von den Cheruskern, an einem Webstuhl zu sitzen, auf seidenen Lagern zu ruhen und dich von Sklaven bedienen zu lassen. Uraltes Blut fließt in deinen Adern. Tief in dir weißt du, wer du bist. Und du weißt auch, dass die Götter dich für etwas Besonderes auserwählt haben. Du hast eine außergewöhnliche Gabe verliehen bekommen, die du zum Wohl der Menschen verwenden sollst. Aber zuerst musst du an den Ort deiner Anfänge zurückkehren.«
    »An den Ort meiner Anfänge«, wiederholte Ulrika flüsternd. »Ich weiß nicht, wo das ist.«
    »Deine Mutter hat es dir vor langer Zeit erzählt. Du kannst es nicht vergessen haben. Der Name des Ortes verbirgt sich im tiefsten Teil deiner Seele. Denk nach, Ulrika!«
    Sie kämpfte mit ihrem Erinnerungsvermögen. Ja, die Mutter hatte ihr von ihrer Reise durch Persien zusammen mit Wulf berichtet. Aber da waren so viele Orte, die sie namentlich erwähnt hatte …
    »Versenke dich tief hinein in den Teil deiner Seele, in den du dich nur selten wagst und in dem kostbare Erinnerungen schlummern. Deine Mutter und dein Vater legten eine Rast ein an einem Ort namens …«
    »Jetzt erinnere ich mich«, sagte Ulrika verwundert. »Das war an den Kristallenen Teichen von Shalamandar.«
    »Und dorthin musst du dich begeben …«
    Bei dem alten Mann, der bislang gebeugt und verschrumpelt gewirkt hatte und nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien,

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