Die Schicksalsleserin
Mehmed war im Augenblick der Einzige, der ihre Familie schützte - vor dem Schicksal als Nothure und Spielzeug für diesen Narbengesichtigen. Sie durfte ihn nicht verärgern.
Mehmed zog sie weiter, und endlich kamen sie bei einem Zelt an, das prachtvoll geschmückt war. Zwei Wachen standen davor. Der Corbashi sprach kurz mit ihnen, die beiden verneigten sich, und er führte Anna hinein.
Drinnen erhob sich bei ihrer Ankunft ein junger Mann. Er war blond und schön anzusehen - und er trug kostbare Kleidung im Stil der Osmanen, die alles übertrafen, was Anna bislang gesehen hatte. Er wirkte wie ein fremdländischer Fürst.
»Christoph Zedlitz von Gersdorff«, stellte der Osmane sie vor. »Anna von Schaunburg.«
»Ebenrieder, eigentlich«, murmelte Anna.
»Ihr werdet das Zelt teilen. Eure Männer werden in ein anderes ziehen.« Der Osmane ging ohne ein weiteres Wort wieder hinaus.
Anna setzte sich wortlos auf einige der kostbaren Kissen, denn sie war erschöpft. »Seid Ihr auch ein Gefangener des Herrn Mehmed?«, fragte sie. Das Wort Sklave bekam sie nicht über die Lippen.
»Nein«, sagte der Mann, der ihr als Christoph vorgestellt worden war. »Ich bin ein Gast des Sultans. Na ja, ein gefangener Gast, wenn man so will. Aber wenn ein Corbashi wie Mehmed seine Gefangenen in dieses Zelt bringt, dann heißt das wohl, dass der erste Sturm bald bevorsteht.«
»Wie kommt Ihr darauf?«, fragte Anna. Sie wagte noch nicht, das weinende Kind abzulegen - obwohl sie bald die
Windeln waschen müsste. Auch Fritzl hielt sie ganz nah bei sich. Sie traute dem Frieden hier noch nicht.
»Wenn das Schlachten einmal begonnen hat, geht den Soldaten schon einmal der Mut durch«, erklärte Christoph. »Dein Herr will dich in Sicherheit wissen. Du musst ihm etwas wert sein.«
Anna nickte bitter. »Geld, nehme ich an. Oder ein Faustpfand gegen den Grafen Hardegg, wie Ihr.«
»Gegen den Grafen?«, fragte Christoph erstaunt. Er musterte sie nun unter langen blonden Wimpern. »Wie das?«
»Ich bin die Tochter Elisabeths von Schaunburg«, erklärte Anna. » Seine Tochter«, fügte sie dann leiser hinzu.
»Und ich bin sein Bannerträger in dem ersten Ausfall gewesen«, rief Christoph erstaunt und sprang auf. »Hier die Hände in den Schoß legen zu müssen, während Hardegg da draußen vielleicht mit den Männer ums Überleben kämpft …« Er ging ruhelos auf und ab.
Anna entspannte sich endlich ein wenig. Vielleicht hatte Mehmed sie wirklich hierhergebracht, um sie gegen seine und ihre Feinde zu schützen. Das wäre immerhin eine gute Nachricht.
Sie wusch Elisabeth in einer Schüssel und half Fritzl dabei, den Umhang abzulegen, um ihn bettfertig zu machen. Der Junge starrte Christoph misstrauisch an. Der lächelte und winkte, doch Fritzl reagierte nicht. Er sah zu Boden und ließ die Mutter gewähren.
In der Ferne erschollen helle Schüsse. Anna hielt inne. »Ist das der Sturm?«
»Nein«, erwiderte der Bannerträger. »Dafür haben die Osmanen sich nicht genug vorbereitet. Sie planen etliche Minenschächte, um Wien mit einem Schlag wehrlos zu machen. Zumindest hat mir das der Sultan gesagt.« Auch er lauschte nun
für einen Augenblick. »Das klingt eher nach den Arkebusen aus Spanien und aus dem Landsknechtsheer Eck von Reischachs. Dieser Tausendsassa wagt vermutlich schon wieder eine Offensive gegen die Stellungen in den Vorstädten.« Dann runzelte er die Stirn. »Aber warum am Mittag? Bislang kam er immer am frühen Morgen, im Schutz der Dämmerung. Im hellen Mittagslicht werden sie zusammengeschossen werden …«
Anna und Christoph lauschten angestrengt. Plötzlich vervielfachte sich das Feuer der Arkebusen, man hörte Schreie, Rufe, dann entferntes Kanonenfeuer.
»Das war nicht das Kärntner Tor«, murmelte Christoph. Er blieb angespannt stehen, als wolle er den Wienern zu Hilfe eilen. »Vielleicht das Tor bei den Schotten oder das Salztor. Sie haben die gut zugänglichen Tore inzwischen völlig eingegraben, sagt der Sultan, also kann es wohl bloß das Salztor oben an der Donau sein. Ich wünschte, ich wäre dort.«
»Warum flieht Ihr dann nicht?«, fragte Anna leise. »Immerhin scheint Ihr Euch im Lager bewegen zu dürfen. Ihr könntet Euch doch davonschleichen, wenn Ihr wolltet.«
Christoph sah sehnsüchtig nach Westen, nach Wien, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe mein Wort gegeben, nicht zu fliehen. Ich wünschte - ach, ich wünschte, ich hätte es nicht getan.«
»Wem habt Ihr das Wort gegeben?«
»Dem
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