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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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und Elisabeth war das einzige Kleinkind weit und breit.
    Die Mutter zog den Umhang sorgsam über das Tuch mit dem Mädchen. Sie wollte das Kind gegen die Mittagssonne einerseits, den kalten Wind andererseits schützen. Gleichzeitig hoffte sie, dass das Kind still bliebe. Vermutlich waren so kleine Kinder den Herren da draußen bloß eine Bürde; Mäuler, die man stopfen musste und die ihre Mütter von der Arbeit abhielten. Anna schmeckte Galle, wenn sie darüber nachdachte, mit welchen Augen die Männer ihre geliebte Tochter betrachten mussten.
    Als ein Grüppchen Osmanen zu dem Pferch trat, in dem Anna mit ihren Kindern auf dem Boden hockte, wünschte sie, sie könnte mit dem Zaun verschmelzen. Doch sie konnte nicht anders - sie sah auf und musterte die Männer jenseits des Gatters.
    Der Mann von dem nächtlichen Zwischenfall am Lagerfeuer war darunter - derjenige, der Friedrich zum Kampf angestachelt und Anna geschlagen hatte, als sie versucht hatte, dazwischenzugehen. Er trug noch immer den Fellüberwurf und die Pelzmütze. Sein Grinsen wirkte durch die Narbe auf Wange und Oberlippe beinahe diabolisch.

    Anna spürte, wie sie sich verkrampfte. Die Erinnerung dieses Mannes über ihr, auf ihr, in ihr war noch so frisch. Wieder zog sie den Sohn näher zu sich. Der Mann durfte sie nicht kaufen; wenn sie und die Kinder ihm gehörten, dann gäbe es niemanden mehr, der zwischen ihnen stünde. Und Fritzl … Er war doch erst fünf! Sollte er jetzt schon die grausamen Spiele der Soldaten über sich ergehen lassen müssen?
    Der Kleine wehrte sich gegen ihren Griff. Drückte sie den Burschen etwa zu stark? Sie ließ locker. Warum beschwerte er sich nicht? Warum sprach er überhaupt nicht mehr? Es war, als hätte der Bub die Sprache verloren.
    »Alles in Ordnung«, murmelte sie. Elisabeth begann zu quengeln, und Anna begann, sie vor- und zurückzuwiegen, damit die Kleine wieder verstummte. Sie beobachtete die Männer. Der narbengesichtige Mann deutete auf sie und Fritzl, gestikulierte mit dem anderen Akindschi; jenem Mann, dem sie wohl gehören musste. Es war derjenige, der sie am Pferd fortgeführt und Fritzl hatte hinterherrennen lassen. Der Mann schien nicht abgeneigt, lachte, öffnete das Gatter zum Pferch und trat mit dem Narbengesichtigen ein.
    Jetzt gelang es Anna ohne weiteres, den Blick streng zu Boden zu richten. Sie wünschte, unter ihr würde sich ein Loch auftun, in das sie sich verkriechen könnte. Doch nichts dergleichen geschah, und irgendwann sah sie zwei Paar Stiefel in ihrem Blickfeld vor sich.
    Die beiden Männer sprachen weiter, der Narbengesichtige lachte. Anna spürte einen Anflug von Übelkeit in ihrem Magen, als sie Münzen klimpern hörte. Die beiden waren dabei, ihr Schicksal zu besiegeln.
    » Ich werde die Frau und ihre Kinder kaufen.« Anna sah unwillkürlich auf, denn diese Stimme gehörte zu keinem der beiden
Männer. Ein Dritter stand hinter ihnen, einer, den sie noch nie gesehen hatte.
    Die Statur des Mannes war beeindruckend - er wirkte breit und kräftig. Er trug eine weiße Filzkappe, deren Ende nach hinten umgeschlagen war; vorne an der Stirn ragte ein Busch weißer Rosshaare auf. Er trug ein blaues Gewand, das einer Tunika ähnelte, die beinahe vollständig von einer blau-rot gestreiften Weste verborgen wurde. Im Gegensatz zu den beiden Akindschi trug er nur einen langen Schnurrbart. Die Augen darüber wirkten ernst. Plötzlich kam Anna der Narbengesichtige gar nicht mehr so übel vor, ihn kannte sie immerhin - dieser Mann war ein Fremder.
    Jetzt wechselte auch der Verkäufer die Sprache. »Seyfeddin hat geboten. Die Ehre gebietet, dass du auch ein Gebot abgeben kannst, Corbashi.« Anna hatte inzwischen mitbekommen, dass dieser Begriff wohl eine Art Offizier beschrieb.
    »Was hat Seyfeddin geboten?«, fragte der Neuankömmling.
    »Seyfeddin in seiner Güte hat mir einhundert Aspern geboten, oh Corbashi. Für alle drei.«
    Der Mann mit dem Schnurrbart zog eine Augenbraue hoch. Offenbar war das viel Geld. »Drei?«, fragte er.
    »Die Frau und die beiden Kinder, Corbashi«, erwiderte der Verkäufer. Er nahm seinen Säbel vor und streckte ihn aus. Anna versuchte sich zu beherrschen, doch als die Waffe ihren Umhang beiseiteschob, zitterte sie am ganzen Leib. Eine Träne lief ihr über die Wange. Sie legte schützend die Hand um die Tochter, die zu weinen begann. Anna fühlte sich wie Schlachtvieh, doch sie versuchte, das Kind zu beschwichtigen.
    »Das ist doch die Frau, von der du berichtet

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