Die Schicksalsleserin
Buben gaben keine Informationen preis, ohne dafür bezahlt zu werden. Sie hatte keine Geduld für solche Spielchen, also kramte sie einen Pfennig aus der Börse heraus. »Hilft das deinem Gedächtnis auf die Sprünge?«
»Ein wenig«, feixte der Bursche und machte eine linkische Verbeugung. »Frag beim Henkersmann nach ihm.«
»Beim Henkersmann? Wieso ausgerechnet dort?«
»Weil er da gesehen worden ist, deshalb natürlich.«
»Aber warum sollte er sich als Lehrling eines angesehenen
Mannes wie Woffenberger beim Henkersmann herumtreiben?« Diese Tatsache war mehr als merkwürdig. Ein Henkersmann hatte weder Geld noch Verwendung für Pläne jeglicher Art und galt wie Madelin selbst als unehrlich. Sein Handwerk war der Tod, und als dessen Gevatter wurde er von den Menschen üblicherweise gemieden.
Wolfram zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich’n das wissen?« Er zögerte einen Augenblick. »Ich habe auch noch etwas herausgefunden.«
»Und zwar?«
»Also … du hast eine Schwester, oder?«
»Woher weißt’ das?«
»Das ist nicht wichtig. Viel wichtiger ist, dass du beim Henkersmann auch eine Nachricht von ihr bekommst.« Madelin starrte ihn an. »Aber … Anna ist aus der Stadt geflohen, nach Krems! Wie kann sie mir da Nachrichten senden?«
»Weiß ich doch nicht«, erwiderte Wolfram. »Weißt’, wo das Schergenhaus ist?« Madelin nickte. »Dann Hals und Beinbruch.« Wolfram winkte ihr zu und verschwand.
Madelin sah ihm verwirrt nach. Was hatte der Henkersmann von Wien mit Anna und ihren Kindern zu schaffen? Oder hatte der Bub sie nur geneckt? Doch sie verwarf diese Vermutung. An der Botschaft über Anna musste etwas Wahres dran sein, denn woher hätte Wolfram denn sonst wissen sollen, dass Madelin überhaupt eine Schwester hatte?
Die Wahrsagerin setzte ihren Weg zur Kodrei Goldberg achtsam fort, denn sie wollte jetzt nicht unbedacht zum Schergenhaus des Scharfrichters hetzen. Sie musste über diese Hinweise nachdenken. Außerdem war sie erschöpft und hungrig, und die Stände auf dem Markt waren inzwischen leergeräumt. Heute würde es wieder Weizengrütze geben, da sie kein bezahlbares Gemüse hatte finden können.
Erst als die Sonne unterging und sie durch die Tür in den muffig riechenden Flur des Goldbergs schlüpfte, nachdem sie sich versichert hatte, das ihr niemand gefolgt war, fiel ihr auf, dass Wolfram für die Andeutung über ihre Schwester gar kein Geld verlangt hatte. Hatte sie nicht gerade erst festgestellt, dass ein Betteljunge nichts ohne Bezahlung tat? Entweder hatte sie sich in Wolfram geirrt, oder sie verstand nicht genau, was für ein Spiel hier gespielt wurde. Doch die Sorgen um Anna vertieften sich, so dass sie kaum noch an etwas anderes denken konnte. In jedem Fall war das alles sehr merkwürdig.
Der Mond stand hell am Himmel, als Madelin auf dem Weg zum Schergenhaus durch die schmalen Gassen Wiens eilte. Sie schlang den Umhang eng um den Leib und band sich das Tuch gegen die Kälte um den Kopf. Ihr Ziel war die enge Gasse bei der Himmelpforte auf dem Steig beim Kloster der Prämonstratenserinnen. Dort wohnte der Henkersmann.
Das Schergenhaus - man nannte es auch Malefizhaus, denn dort sollte angeblich das Böse wohnen - lag trotz der Sitte, alles Unreine aus der Wiener Innenstadt in die Vorstädte auszusperren, mitten unter den Anwesen der Bürgersleute. Man munkelte von Flüchen und Heimsuchungen an solchen Orten. Doch die Nachricht einer Botschaft über Anna und die Kinder hatte Madelin in solche Sorgen gestürzt, dass sie keine Wahl gehabt hatte, als dem Hinweis zum Haus des Freymanns zu folgen.
Madelin kreuzte achtsam den dunklen Rossmarkt, denn die Straße war hier aufgerissen worden, damit die Menschen beim Einschlag von Kanonenkugeln nicht durch das Gerölle verletzt wurden, das sich selbst in tödliche Geschosse verwandeln konnte. In der Straße hinab ins Kärntner Viertel war es ein wenig besser.
Sie blieb auf ihrem Weg wohlweislich stets im Schatten der Gebäude, obwohl die Deckung der Mauern gegen Kanonenkugeln trügerisch war. Um von einer Kugel getroffen zu werden, musste man schon verdammtes Pech haben. Die Splitter eines zertrümmerten Hauses hingegen konnten ein Dutzend Menschen in den Tod reißen.
Helle Schüsse gemahnten Madelin, dass sie dem Viertel immer näher kam, das zum umkämpftesten der Stadt gehörte. Die Luft war selbst in der Nacht so klar, dass die Türken ein gutes Schussfeld auf die Ringmauerwachen hatten. Trotzdem hatte man den
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