Die Schicksalsleserin
Sultan Süleyman.«
»Aber habt Ihr dem Grafen zu Hardegg nicht auch geschworen, Eure Pflicht zu tun?«
Christoph hielt in seinem unruhigen Schritt inne und legte die Stirn in nachdenkliche Falten. »Ja, schon, das habe ich.«
»Also müsst Ihr nur noch entscheiden, welches schwerer wiegt«, schloss Anna.
Einen Augenblick lang sah der Bannerträger wirklich versucht
aus. Er legte die Hände auf den Rücken und sah wieder zum Ausgang des Zeltes hin. »Nein«, sagte er dann. »Es mag mich jetzt reuen, doch ich habe mein Wort gegeben.«
»Würde sich ein Osmane daran halten?«, fragte die Mutter zweifelnd.
Der Bannerträger blickte sie entrüstet an. »Natürlich würde er das. Der Sultan hat mir versprochen, dass mir nichts geschieht - und bislang hat er sich daran gehalten.«
Anna umschlang ihre Kinder mit den Armen und horchte in die Welt hinaus, die feindlich und fremd geworden war. Endlich spürte sie ein wenig Sicherheit und Schutz in diesem Zelt des Feindes, das so weit weg von den Kugeln der Kanonen lag. Sie musste an Madelin denken, die vermutlich immer noch dort in den Mauern ausharrte und vermutlich keine Ahnung hatte, wie groß das Heer des Sultans wirklich war …
Anna schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Sie bat den Herrgott, ein Auge auf die Schwester zu halten - und auf die Mutter und den Vater, wenn sie denn noch am Leben waren. ›Bitte, Gott, lass sie das überleben‹, bat sie stumm. ›Und lass mich lebend mit meinen Kindern zu ihnen zurückkehren. Sie sind doch alles, was ich habe.‹ Dann bettete sie Elisabeth und Fritzl in die Kissen, deckte sie zu und legte sich eng angeschmiegt daneben.
Dass der Bannerträger ihr schließlich auch eine wärmende Decke überlegte, das spürte sie schon kaum mehr.
KAPITEL 17
D er Abend des siebten Oktober neigte sich schon der Nacht zu, als Madelin unter dem Heiltumstuhl hindurch auf dem Weg zur Kodrei Goldberg war. Ihre Füße taten weh und sie fror. Sie war jetzt den dritten Tag vergebens durch die Stadt gelaufen und hatte versucht, Daniel aufzutreiben, den Lehrling des Kartenmalers Woffenberger. Niemand kannte ihn, niemand hatte ihn gesehen, niemand konnte ihr auch nur den geringsten Fingerzeig darauf geben, wo er zu finden war. Es war wie verhext.
Natürlich hatte sie bei ihrer Suche gleichzeitig darauf geachtet, selbst nicht von dem Mann mit dem Löwengesicht gefunden zu werden. Das machte die Sache nicht einfacher, doch Madelin wollte ihren neuen Schlafplatz um keinen Preis verraten.
Obwohl sie jetzt mit Lucas zusammenwohnte, hatte sie den Studenten kaum gesehen. Sie hatte sich die Hacken wund gelaufen, um den Lehrling zu suchen - und er hatte mehr als genug damit zu tun, Gebäude abzureißen und Verteidigungsanlagen aufzubauen. In jedem freien Augenblick versenkte sich Lucas in das Buch, das er aus der Bibliothek entwendet hatte. Sie dachte an den Kuss in der Vorhalle der Universität und stellte traurig fest, dass sich bislang noch kaum eine Gelegenheit ergeben hatte, diese Innigkeit zu wiederholen.
Die junge Frau hoffte, dass es Franziskus gutging. Erisbert hatte versprochen, auf ihn achtzugeben, während sie unterwegs war. Glücklicherweise hatten Franziskus’ Anfälle in den letzten Tagen nachgelassen, und das beruhigte Madelin ein wenig,
denn jeder einzelne zehrte an seinen Kräften. Sie ertappte sich bei der Hoffnung, dass sie vielleicht genauso unverhofft verschwinden würden, wie sie gekommen waren. Doch wenn sie ehrlich mit sich war, dann ahnte sie, dass es so einfach nicht sein würde.
»Bist du Madelin?«, fragte da eine helle Stimme.
Die Wahrsagerin sah auf, bereit, hinter dem Heiltumstuhl in die Gasse bei den Naglern zu fliehen. Vor ihr stand ein Junge mit Stupsnase und Sommersprossen, dessen verschlissene Beinkleider und bloße Füße darauf deuteten, dass er ein Betteljunge war.
»Ich bin’s, Wolfram. Wir haben vor zwei Wochen gesprochen, als du dich nach dem Flüchtlingszug erkundigt hast.«
Madelin entspannte sich ein wenig. »Ja, ich erinnere mich. Was willst du?«
»Hab gehört, dass du Daniel, den Lehrling suchst.«
Also hatte sich ihre Suche inzwischen herumgesprochen. Diese Tatsache war nicht verwunderlich, beunruhigte sie aber. Wenn der Mörder Woffenbergers dadurch nicht nur auf sie aufmerksam wurde, sondern auch auf den Lehrling, könnte er ihr zuvorkommen … »Das tue ich. Weißt’, wo er ist?«
»Vielleicht«, erwiderte Wolfram gedehnt.
Madelin starrte ihn einen Moment lang an, bevor sie verstand. Solche
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