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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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es nicht mehr aus. Wenn sie nicht sofort ging, würde sie dem Freund alles erzählen, und Franziskus würde versuchen, sie aufzuhalten. Das durfte nicht geschehen. »Bleib einfach im Haus und bitte die anderen, nicht mehr hinauszugehen, wenn sie wiederkommen, ja?«, bat sie schnell. »Ich muss jetzt weg.«
    »Mache ich«, erwiderte Franziskus. Irgendwie sah er ein wenig kraftvoller aus als noch vor ein paar Augenblicken. Vielleicht hatte sie ihm ein wenig Mut geben können. »Wir sprechen später, ja?«
    »Ja«, erwiderte Madelin und lächelte ihm bedauernd zu. »Später.«
    Dann öffnete sie die Tür und trat hinaus auf die Straße.
     
    Der alte Fleischmarkt lag still da, sämtliche Fleischbänke waren verlassen. Nur die Fliegen und Ratten hielten ihren Schmaus an den Resten.
    Die Kanonen der Feinde schwiegen seit Sonnenuntergang fast vollständig. Niemand begegnete Madelin auf der nächtlichen Straße, und selbst die Wachen auf den Türmen richteten ihren Blick nicht auf die Gassen Wiens, sondern vor allem auf
die Donau, um vor einer Gefahr von außen warnen zu können. Hatte Madelin nicht gehört, dass belagerte Städte und Burgen meist gar nicht dadurch erobert wurden, dass der Feind mit Gewalt ihre Mauern überwand? Weit öfter fielen sie von innen, durch Verrat.
    Als Madelin das Minoritenkloster erreichte, schlug das Primglöcklein zum zweiten Mal. Eine halbe Stunde noch, in der sie sich auf keinen Fall erwischen lassen durfte. Sie schlich die dunkle Gasse hinunter und lugte am Ende erst rechts, dann links an der Mauer entlang. Dann verließ sie den Schutz des Mondschattens und lief über die Straße zu der schmalen Grasnabe, die an der Mauer den Einstieg in ihr altes Versteck verbarg. Als sie sich an den kühlen Stein drückte, hörte sie eine Stimme.
    »Ist da wer?«
    Madelin warf sich flach auf den Boden. Sie schob sich seitwärts in die flache Kerbe, die hier am Fuß der Mauer lag, und zog den Überrock hastig über das helle Untergewand. Dann wandte sie den Kopf nach unten und steckte die Hände unter den Körper, um im Mauerschatten nicht durch hellere Flecken aufzufallen. Sie versuchte, ganz still zu sein und ihren Atem so flach zu halten, dass man sie nicht hören würde.
    Schritte näherten sich. »Ola!« Offenbar handelte es sich um einen Hispanier.
    Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Hatte er sie gesehen? Sie durfte sich nicht rühren, durfte nicht keuchen … Der Sand der Straße knirschte unter einer Ledersohle, dieses Mal zu ihrer Linken.
    Jetzt hielt die Wahrsagerin tatsächlich die Luft an, während ein Gedanke den nächsten jagte. Wenn der Wachmann sie fand, wäre er zu Recht misstrauisch. Sie wirkte fremdartiger als eine Wiener Bürgersfrau. Er würde sie zumindest mitnehmen und
befragen, und dann erginge es Anna schlecht, weil sie es nicht rechtzeitig zum Treffpunkt schaffen würde. Wenn der Mann Madelin durchsuchte und die Trionfi-Karten bei ihr fände, dann konnte sie nur hoffen, dass er die Linien und Ziffern nicht darauf entdeckte. Wenn er überdies das Loch unter der Mauer fände, an dem sie lag, dann würde er sie als Spionin verhaften. Die Wahrsagerin fühlte die Panik in sich wachsen. Der Wachmann machte einen, dann zwei Schritte an ihr vorbei und hielt wieder inne.
    Madelin versuchte, sich zu beruhigen. Der Mann würde sie nicht finden. Und selbst wenn - es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn er die Bedeutung der Karten erkannte. »Ola!«, rief der Wachmann noch einmal. Madelin zuckte zusammen. Sie entließ leise die angehaltene Luft, damit sie nicht keuchen musste. Als sich wieder Stille ausbreitete, grunzte der Mann neben ihr verärgert und drehte um. Dann ging er an ihr vorbei, und seine Schritte verhallten zwischen den Mauern der Häuser.
    Madelin schöpfte erleichtert frischen Atem. Sie blieb noch so lange liegen, bis das Primglöcklein klar und deutlich die nächste Viertelstunde anschlug. Die Zeit drängte! Sie erhob sich, sah sich um und befreite den Zugang zu ihrem alten Versteck von Gras und Dreck. Dann schlüpfte sie hinunter in die Dunkelheit.
    Dies war der schlimmste Teil ihres Weges. Muffige Kälte schlug Madelin entgegen, als sie unten war. Sie wandte sich um und mühte sich, den Zugang wieder zu verbergen. Dann tastete sie sich voran.
    Schmerzhaft stieß sie mit dem Kopf an einen Stein und fluchte. Endlich kam Madelin auf der anderen Seite an. Ihre Finger fanden trotz der Finsternis die Fugen zwischen den Steinen, die sie einfach aufeinandergestapelt hatte.

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