Die Schicksalsleserin
die zerklüfteten Augenbrauen. »Sehr gut. Der Treffpunkt ist zur Mitternacht in der Kapelle von Sankt Anton auf der Wieden. Dort wartet nachts ein Offizier namens Mehmed. Gib ihm die Karten. Heute schaffst du es nicht mehr, also geh morgen.«
»Wie kommt man dorthin?«
»Ich war auch erst einmal draußen und habe ihn getroffen. Sie haben mich gefunden.«
»Und wie bist du durch die Reihen der Soldaten gekommen? Man spaziert doch nicht einfach in ein Feindesheer hinein!«
Sein wulstiges Gesicht verzog sich zu einem schiefen, traurigen Lächeln. »Mein Zustand bringt ein paar Vorteile mit sich.«
Madelin wusste nicht genau, was er meinte, doch ihre Gedanken waren schon bei ihrer Schwester. »Und dann wird er Anna und die Kinder freilassen?«
»Ja, er wird sie freilassen.«
»Und ich soll mich mit dem einzigen Druckmittel in seine Gewalt begeben? Was hält ihn davon ab, mich nicht auch noch gefangen zu nehmen?«
Der Mann verzog das entstellte Gesicht zu einem Lächeln, das beinahe sanft wirkte. »Er wird sich an diese Abmachung halten.«
»Warum sollte er?«, fragte Madelin.
»Er wird sich an die Abmachung halten«, wiederholte der Mann.
»Er ist ein Osmane!«, stieß Madelin bitter aus. »Ich bin das lebende Zeugnis davon, wie ehrenhaft die sind!«
Er blickte sie traurig an. »Hasst du das Blut in deinen eigenen Adern auch so sehr wie ihres, Meryem?«
Der Wahrsagerin blieb jegliche Antwort im Hals stecken. Woher wusste der Mann so viel über sie?
Madelin erkannte jetzt beinahe so etwas wie Mitleid in seinem Blick. »Wirst’ das Spiel aus der Stadt bringen?«, fragte er im Flüsterton.
Die Wahrsagerin biss sich auf die Unterlippe. Das hieß Wien den Türken preisgeben, um ihre Schwester zu retten. »Wird es denn etwas bringen? Werden wir nicht sowieso alle sterben, wenn die Osmanen kommen?«
»Der Mann, dem du die Karten bringst, wird für die Sicherheit deiner Familie bürgen.«
»Und meiner Freunde?«, fragte Madelin schnell.
Er wog den Kopf hin und her. »Du kannst versuchen, ihn selbst darum zu bitten. Wirst’ also das Spiel aus der Stadt bringen?«, fragte der Löwengesichtige noch einmal eindringlich.
»Was habe ich denn für eine Wahl?«, fragte Madelin mit unterdrückter Wut. »Anna ihrem Schicksal überlassen?« Sie war den Tränen nah. »Das kann ich nicht.«
Der Mann wartete auf eine Antwort, die Augen lagen tief in den undurchdringlichen Schatten zwischen den Brauen und den knotigen Wangen.
Madelin zwang sich zu einem Nicken. »Ich werde das Kartenspiel aus der Stadt bringen. Aber wenn du gelogen hast, oder wenn dieser Osmane sein Wort nicht hält, dann möge Gott deine unsterbliche Seele verfluchen - und seine gleich mit.« Sie spie auf den Boden.
»So sei es«, sagte der Löwengesichtige ernst.
Madelin floh aus dem Schergenhaus. Sie lief durch die Straßen von Wien, ohne auf die Richtung zu achten. Schließlich hockte sie sich bei Sankt Ruprecht in den Schatten des Fachturmes an der nördlichen Mauer. Sie bebte am ganzen Körper. Die Sorge um Anna rang in ihr mit der Unbegreiflichkeit der Tat, die sie begehen würde, wenn sie die Spielkarten mit dem Stadtplan darauf in die Hände des Feindes legen würde.
Doch als die ersten Strahlen der Sonne den Morgen ankündigten, wusste sie, dass dies der Tag war, an dem sie Wien an die Osmanen verraten würde.
KAPITEL 18
W o gehst du hin?«, fragte Franziskus schwach. Er lag auf seinem Lager, das Madelin in der Küche der Kodrei direkt vor dem Kamin aufgebaut hatte. Besorgt stellte Madelin fest, wie blass und matt er wirkte. Er hatte sich von dem gestrigen Anfall offenbar nur schlecht erholt.
Madelin stand in der Stube, wo sie ihre Habseligkeiten für den nächtlichen Gang zusammensuchte, auf den sie der Alte gestern geschickt hatte. Es war eine Stunde vor Mitternacht. »Ich … ich treffe mich mit Lucas.« Sie wurde rot und war froh, dass es schon dunkel war, denn so würde der Freund ihr Gesicht von seinem Lager aus nicht sehen. Franziskus kannte sie viel zu gut, als dass sie ihn lange anlügen könnte.
»Ist er beim Bautrupp?«
»Ja, wie üblich. Sie ziehen durchs Kärntner Viertel hinter der ersten Mauer eine zweite, da brauchen sie jeden Mann. Hat sein neues Buch eigentlich etwas ergeben?«
»Bislang nicht«, erwiderte der Ikonenmaler mutlos. »Er hat mir gestern noch einmal den Puls gespürt und den Urin beschaut. Aber er wirkte hinterher ebenso klug wie zuvor. Es wird nichts bringen.«
»Hat er es denn schon
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