Die Schicksalsleserin
hielten Männer Wache. Dies war die Höhle des Löwen. Doch sie war bereits zu weit vorgedrungen, um jetzt noch umzukehren. »Geh.« Der Soldat wies auf den Eingang. Sie zog die Tür auf und ging sich vorsichtig umschauend hinein.
Im Innern der hohen Antoniuskapelle herrschte gähnende Leere. Das Weiß der Wände glühte im Licht der Kerzen beinahe. Von Gestühl und Altären sah man bloß noch Splitter - vermutlich war es zu Brennholz zerschlagen und fortgeschafft worden. Auch Statuen gab es keine mehr. Die einzige Zier des Raumes bestand aus den Wandbildern. Sie zeigten die verschiedenen Stationen aus dem Leben des heiligen Antonius.
Im Chor, wo die Statue des Heiligen gestanden hatte, sah Madelin die Versuchung durch den Teufel in Gestalt einer verführerischen Frau. Der zuckende Schein der Kerzen hauchte den Bildern eine unheimliche Lebendigkeit ein. Der Legende nach hatte der Heilige sich erfolgreich gegen Bestechung,
Unzucht und Folter in Gestalt von dämonischen Bestien gewehrt. Ob er einen Bruder geopfert hätte, um dem Teufel zu widerstehen? Der Gedanke ließ Madelin sich unwillkürlich bekreuzigen.
»Ich warte schon die dritte Nacht«, erklang eine ungehaltene tiefe Stimme. Sie fuhr zum Türbogen eines Seiteneingangs herum. Dort stand ein Mann, halbverborgen von den Säulen des Kirchenschiffs. »Wer bist du?« Er klang überrascht. »Und wo ist der Aussätzige?«
Die Wahrsagerin schlang die Arme um den Leib, um sich weniger schutzlos zu fühlen. »Mein Name ist Madelin. Der … Aussätzige schickt mich.« Sah der Löwengesichtige deshalb so entsetzlich aus? Hatte er Lepra? Kein Wunder, dass er durch das Feindeslager gekommen war! Würde sie auch erkranken? Der Mann war ihr und Franziskus so nahe gekommen …
Der Offizier löste sich aus dem steinernen Bogengang und trat vor die halbrunde Apsis der Kapelle. Dort beleuchtete ihn das Licht des Mondes durch zerborstene Fenster. Er war kräftig und trug eine blaue Tunika mit rotem Überwurf ohne Ärmel. Die weiße Filzkappe der Janitscharen war mit einem Büschel Rosshaaren an der Stirn geschmückt. Das lange Haar und der Schnurrbart wirkten im Dunkeln schwarz.
»Madelin?«, fragte er ungläubig. »Bist du Annas Schwester?«
»Die bin ich.« Hatte der Löwengesichtige sie denn gar nicht angekündigt? Vermutlich nicht, denn man spazierte nicht mal eben vor die Mauern. Aber woher kannte der Offizier dann ihren Namen? Von Anna?
Der Mann murmelte etwas in seiner Sprache - es klang nach Flüchen. »Hast du den Plan?«
»Es sind Karten - Spielkarten.« Madelin wunderte sich mehr und mehr. Wusste er nicht einmal, was genau ihm übergeben werden sollte?
»Spielkarten? Etwa … Trionfi?« Seine Stimme wurde beinahe sanft.
Offenbar wusste er damit etwas anzufangen. »Ja. Ich trage sie bei mir. Wenn Ihr meine Schwester und ihre Kinder habt.«
»Ich habe sie.«
»Übergebt sie mir und Ihr erhaltet das Spiel.«
Die Augen des Mannes lagen in dunklen Höhlen. Madelin fühlte sich trotzdem gemustert. »Du bist bereit, ganz Wien für sie zu opfern?«
Glaubte er ihr nicht? Dachte er, sie würde ihn übers Ohr hauen? »Ich habe ja wohl keine Wahl, oder? Sie ist meine Familie.«
Der Janitschar nickte stumm. Er wandte sich kurz ab zum Fenster, das nach Norden wies, gen Wien, und rieb sich die Augen.
»Der Aussätzige hat mir gesagt, ich soll mit Euch selbst über die Sicherheit meiner Familie und meiner Freunde verhandeln.«
»Deiner Familie wird nichts geschehen.«
»Und meinen Freunden? Ich reise mit ihnen seit Jahren.«
»Ich kann nicht ganz Wien unter meinen Schutz nehmen.«
»Nein, das sicher nicht«, bekannte Madelin bedrückt. »Aber ich werde nicht zulassen, dass meinen Freunden etwas zustößt. Wollt Ihr die Karten, versprecht Ihr mir, dass ihnen nichts geschehen wird.«
Der Osmane schnaufte. »Also gut. Bringe sie zum Haus deiner Mutter. Das wird der einzige Ort in Wien sein, an dem ihr sicher seid. Und jetzt leg das Spiel auf den Vorsprung dort.«
»Erst will ich Anna und die Kinder sehen«, sagte Madelin. Sie wunderte sich selbst über ihren eigenen Mut - immerhin könnten die Soldaten ihr das Spiel einfach abnehmen.
»Sie sind nicht hier.«
»Nicht hier? Wo sind sie dann?«
»In meinem Gewahrsam.«
»Das war so nicht ausgemacht! Ich gebe Euch das Spiel, und Ihr gebt mir Anna, Friedrich und die kleine Elisabeth. Das war vereinbart!«
Der Offizier schwieg für einige Augenblicke. »Sie heißt Elisabeth?«
»Ja, nach unserer Mutter.« Besaß
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