Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
Vom Netzwerk:
die Hände aus, die so groß wie Schaufelblätter auf sie wirkten. Madelin musste sich trotz der Klinge an ihrem Hals zusammenreißen, um nicht vor ihm zurückzuweichen. Der Henker war fast zwei Fuß größer als sie selbst. Er stand nun mit hängenden Schultern und vorgerücktem Kopf vor ihr, zu groß für den niedrigen Raum. Madelin schloss die Augen.

    »Lass die Finger von ihr, Mann!«, fauchte der Löwengesichtige hinter ihr. Madelin blinzelte erstaunt. »Mach, dass du rauskommst!« Tatsächlich verharrte der Henker, auch er war überrascht über die Entschiedenheit in der Stimme des Mannes.
    »Das ist mein Haus«, stammelte der Riese halb verärgert.
    »Das man dir auch wegnehmen kann, wie du weißt«, erwiderte der andere. »Also geh.«
    Madelin spürte die Klinge an ihrem Hals nicht mehr, und der Löwengesichtige schob sie beiseite, so dass der Aufgang zur Treppe für den Henker frei wurde. »Und mach die Tür hinter dir zu!«, krächzte der Mann mit dem Löwengesicht. Oben quietschten Angeln, dann war Madelin mit ihm allein. Sie drehte sich um.
    Der Mann stand im Licht der Fackel vor ihr. Er wirkte dürr und alt, doch das weiße Haar und die Sehnigkeit täuschten darüber hinweg, dass er noch gelenkig und gewandt war, denn die Hand mit dem Messer hatte keinen Augenblick gezittert. Aber wenn selbst der Henkersmann, ein Riese von Statur und eine der furchterregendsten Gestalten Wiens, vor dem Löwengesichtigen buckelte wie ein Bettler - welche Gefahr musste dann von ihm ausgehen? Und warum hatte er sie so entschieden davor bewahrt, dass der Henker seine unreinen Finger auf sie legte?
    »Wer bist du?«, flüsterte Madelin. Sie hörte das Beben ihrer Stimme selbst, doch sie konnte nichts dagegen tun. Sie streckte die Hand aus und zog ihm die Kapuze vom Kopf. Er hinderte sie nicht daran.
    Sie betrachtete den Mann nachdenklich, und auch er ließ sie nicht aus den Augen. Das weiße Haar stand ihm vom Kopf ab, so dass es in dem Halblicht der unterirdischen Kammer wie ein Heiligenschein wirkte. Das Löwengesicht darunter war so furchterregend entstellt, dass Madelin weder Alter noch Gefühlsregung
darin lesen konnte. Eine violette Verfärbung an der Schläfe zeugte von Franziskus’ Angriff. Merkwürdigerweise spürte Madelin ein vages Gefühl der Vertrautheit, das sie nicht zuordnen konnte. Vielleicht ähnelte er bloß einer der Figuren auf ihren Spielkarten?
    »Niemand, der dir ein Haar krümmen wird«, erwiderte er jetzt mit seiner kaum hörbaren Stimme.
    »Warum? Du könntest mich einfach töten, so wie Woffenberger.«
    »Ich verspreche es.«
    Das irritierte Madelin noch mehr. »Und was hast du dem Henker hier versprochen?«, fragte sie. »Dass du seinen Sohn am Leben lässt?«
    »Natürlich.«
    »Und der Dummkopf hat es dir geglaubt?«
    »Ich habe mein Versprechen gegeben. Ich werde es halten«, flüsterte der Mann. »Warum sollte ich ihn auch töten? Dem Lehrling Woffenbergers hätte vielleicht jemand Glauben geschenkt. Dem Sohn des Henkers hört niemand zu.«
    »Auch nicht, wenn es um Verrat geht? Du bist ein Spion der Türken.«
    »Nicht direkt.«
    »Aber du stehst mit ihnen in Verbindung.«
    »Wenn du das so sehen willst«, erwiderte er. »Mit einem von ihnen.«
    »Deshalb die Nachricht über Anna?«, fragte sie mit einem Knoten im Hals.
    »Ja.«
    »Was hast du mit ihr getan?«
    »Ich habe nichts mit ihr getan«, sagte der Löwengesichtige. »Die Osmanen haben den Flüchtlingszug nach Krems überfallen.«

    »Oh, mein Gott«, Madelin schlug die Hände vor den Mund. »Die Arme! Geht es ihr gut?«
    Er studierte ihr Gesicht eingehend. Weidete er sich an ihrem Schmerz? Nein, er lächelte nicht, wirkte selbst ernst. »Sie lebt. Und sie ist in Sicherheit - so weit man das von einer Frau in einem Lager voll Soldaten sagen kann.«
    Madelin glaubte ihm. »Was willst du für das Leben meiner Schwester?«, fragte sie erstickt.
    »Du wirst mir das Trionfi-Spiel geben.«
    »Natürlich, das verfluchte Spiel«, sagte Madelin. »Ich wünschte, es wäre niemals in meine Hände geraten.«
    »Hast du es bei dir?«
    Die Wahrsagerin schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Närrin.«
    »Mach die Gürteltasche auf.«
    Madelin gehorchte und zeigte ihm die leere Tasche. Er nickte. »Das ist auch besser so. Dann wirst du es hinausbringen. Gib es dem Mann, der deine Schwester in seiner Gewalt hat.«
    »Einem Osmanen?«
    »Ja. Kennst du einen Weg aus der Ringmauer hinaus?«
    Madelin nickte furchtsam.
    Der Löwengesichtige hob erstaunt

Weitere Kostenlose Bücher