Die Schicksalsleserin
der Name bei den Muslimen eine besondere Bedeutung?
»Ich … ich kannte mal jemanden dieses Namens«, murmelte der Mann. »Aber es bleibt dabei. Deine Schwester und ihre Kinder bleiben bei mir.«
Madelin erkannte, dass der Mann nicht daran dachte, Anna und die Kinder freizugeben. Wie dumm sie gewesen war! Man hatte sie in eine Falle gelockt. »Ich hätte es wissen müssen«, erwiderte sie wütend. »Ihr hattet nie vor, Euch an die Abmachung zu halten!«
Er studierte ihre Züge, als suche er darin nach einer Antwort. »Beleidige mich nicht, Weib. Ich halte mich an die Abmachung - nur lege ich den Zeitpunkt der Freilassung selbst fest.«
»Warum?«
»Weil ich der Quelle der Karten nicht vertraue. Ich möchte erst sichergehen, dass das Spiel die korrekten Informationen enthält, die ich benötige. Immerhin will ich mich vor meinem Herren nicht blamieren.«
»Wer ist es?«, wollte Madelin wissen. »Wer hat sie in Auftrag gegeben?«
Der Mann zögerte. Die Wahrsagerin wünschte sich mehr Licht, um in seinen Zügen besser lesen zu können. So hörte sie nur einen rauen Unterton in seiner Stimme, als er sagte: »Jemand, der mich schon einmal verraten hat.«
»Bitte, ich muss es wissen!«
Der Mann schüttelte den Kopf und trat weiter vor, direkt ins Mondlicht. Er hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und wirkte so wie eine Statue, gemeißelt aus weißem und schwarzem Stein. »Nein. Wenn du es nicht weißt, werde ich es dir nicht mitteilen. Sind dies auch die echten Karten? Oder hast du etwas daran verändert?«
»Damit hätte ich das Leben meiner Schwester riskiert«, sagte Madelin. »Traut Ihr mir das zu?«
»Ich traue deiner Familie beinahe alles zu.«
Diese Aussage ließ Madelin aufhorchen. Was meinte der Mann? Spielte er auf Graf Hardegg an? Oder hatte sich der Ruf ihrer Mutter so weit verbreitet, dass selbst dieser Osmane davon wusste? »Ich bin mit Graf zu Hardegg nicht verwandt«, sagte sie vorsichtshalber. »Und ich bin nicht meine Mutter.«
Ein Ausdruck huschte über das Gesicht des Janitscharen, den Madelin nur schwer deuten konnte. Aber immerhin konnte sie jetzt seine Züge lesen. Schmerz lag darin sowie die Andeutung von Wehmut - und das just in dem Moment, als sie die Mutter erwähnt hatte. Wut und Trauer rangen in dem Mann miteinander, doch es war ein alter Kampf. Woher konnte ein Osmane, der erst vor zwei Wochen in die Gegend um Wien gezogen war, Elisabeth von Schaunburg kennen? Ein Mann, der sagte, er traue ihrer Familie nicht? Als sie begriff, wen sie vor sich haben musste, schlich sich eine eiskalte Furcht in ihren Magen.
»Du«, keuchte sie. »Du bist …« Der Offizier entgegnete nichts. »Du bist der Mann, der meiner Mutter Gewalt angetan hat! Du hast sie in Schande gestürzt!« Er widersprach nicht. Den letzten Schluss konnte Madelin nicht aussprechen. »Was hast du mit meiner Schwester getan?«
Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen aufeinander. »Ich habe nichts mit ihr getan. Sie steht unter meinem Schutz. Gib mir die Karten.«
»Nur gegen meine Schwester.«
»Sie ist sicherer bei mir. Wenn Wien eingenommen wird, sind die Frauen Freiwild der Akindschi.«
»Und bei dir sind sie nur dein Wild«, erwiderte Madelin, die Stimme halberstickt vor Sorge.
Der Offizier zog die Brauen zusammen und schloss kurz die Augen. »Ich möchte nicht, dass meine Männer Hand an dich legen müssen, Madelin. Aber ich werde es ihnen befehlen, wenn du die Karten nicht freiwillig herausgibst!« Hinter ihr klappte die Tür. Ein Blick über die Schulter zeigte Madelin, dass der Soldat hinzugetreten war, der sie hergebracht hatte.
Widerwillig griff sie zur Gürteltasche und schnürte sie auf. Ihr Arm fühlte sich an, als sei er aus Blei. Sie zog das Spiel heraus und hielt das Tuch fest, in das es eingeschlagen war.
»Gib mir einen Beweis, dass du Anna wirklich hast. Und dass es ihr gutgeht«, verlangte Madelin bebend.
Der Offizier starrte sie unwirsch an, dann nickte er. »Sie sagt, ihr beide hättet euch mit der Mutter am Tage ihrer Hochzeit schlimm gestritten, so dass du weggelaufen bist. Der Streit tut ihr sehr leid. Man nennt dich Madelin, aber du heißt eigentlich Meryem. Das ist in meiner Sprache der Name Marias, der Mutter des Propheten Jesus.«
»Kaum jemand kennt meinen echten Namen«, murmelte Madelin. Außer Franziskus und ihrer Familie eben, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter das jemandem anvertraut hatte. Möglicherweise hatte
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